Knochenwind

„Worauf verdammt sollen wir schießen?!“
„Auf alles was nicht so aussieht wie wir!“
Und sie ballern in die schnell und schneller vorbeiziehenden Bäume, in die Dickichte aus unförmigen, sich bewegenden Schatten.
Fetz gibt Gas, weil er Angst hat, aber fahren kann er. Das Hin und Her auf dem nassschwarzen Asphalt, wenn Fetz darauf liegendem Schrott und Körpern ausweicht, macht dass sich Sick und One an den Rahmen der Seitenfenster festhalten müssen, um nicht aus dem Fahrzeug zu kippen, während sie Schemen erschießen.
Der Wind krallt mit Knochenfingern nach ihren Gesichtern, reißt Haut von Fleisch. Es geht noch schneller durch die Zeit. Sie fliegt vorbei, bleibt als etwas Verdorbenes hinter ihnen liegen. Fangarme entrollen sich wie Feuerwehrschläuche, bis das Profil der Reifen sie auf die Straße nagelt.
Entweder heult der Wind oder der tanzende Aufruhr an den Seiten des Fahrwegs oder beides. Vielleicht ist beides dasselbe. Magazine klacken heraus, Sick und One laden nach, schießen weiter. Sick brüllt dabei, während One präzise und still die fahnenhaften Andeutungen von Gesichtern anvisiert, durchzieht, feuert, anvisiert. Der Außenbezirk empfängt sie mit Stacheldrahtzäunen, Sirenengeheul, dem Widerhall von Explosionen und Feuerschein. Autos stehen quer, brennen und verbreiten Rauch. Nur wenig langsamer steuert Fetz dazwischen hindurch, umschifft Untiefen und Felsgrate aus aufgerissenem Blech. Noch langsamer über die Kreuzung, auf der ein Lastzug umgestürzt ist, wie ein sterbender Wal am Strand liegt er mit klaffendem Bauch und verspritzt Flammen. Danach sieht die Straße frei aus, von dunklen Nebeln abgesehen, durch die hindurch Fetz wieder beschleunigt. Straße frei, Gas, mehr Gas, der Motor schreit. Die beiden in den Fenstern schießen blind in die Wolken.
Über die nächste Kreuzung. Eine schwarze Wand fällt herab, mitten in die Linie des Vierradprojektils. Crash. Dabei werden Sick und One in den Fensterrahmen entzwei gerissen und Fetz rast mit dem Kopf in den Luftsack, der unter seinem Gewicht seinen Atem ausstößt.

Das Gerippe eines kalten Morgens wölbt sich über der Zone. Als Fetz erwacht ist alles starr, das Blut getrocknet, der Blechschaden um ihn wie eine strenge Faust geschlossen, die schwarze Wand, in der die Fahrt geendet hat, verschwunden. Er schält sich aus dem Blech, stößt sich mit einem Tritt aus dem Truck und liegt in Ruß und klebrigem Zeug am Boden. Sein Blick richtet sich dorthin, wo sie hergekommen sind. Da liegt die Kreuzung. Sie sind durch die Wand gebrochen. In dieser Richtung liegt nichts, nur ein wabernder Teich glühender Schwärze und darüber eine pulsierende Wolke fahlen Beins. Der Sturm ist erstarrt und Fetz kann für eine Weile nicht anders als mit seinem Blick daran festhalten, auf eine Bewegung warten, einen Sprung zu dem das graue Monster ansetzen würde. Doch der bleibt aus. Fetz zwingt sich von dem Anblick fort, sieht auf dem Asphalt Körperteile verstreut liegen, die zu Sick und One gehörte, erstarrtes Blut, Risse im Straßenbelag und stadtwärts Trümmer und Rauch. Fetz kommt auf die Füße und setzt unter Schmerzen einen vor den anderen von dem geballten Sturm fort, immerzu in Furcht und das Gefühl der Unausweichlichkeit im Nacken, der Knochenwind könne sich hinter ihm auftürmen, ihn und die Stadt wie eine Springflut …

(c) Tobias Reckermann, 2016

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain