„Sense of Wonder: A feeling of awakening or awe triggered by an expansion of ones awareness of what ist possible or by confrontation with the vastness of space and time as brought on by reading science-fiction.“(1)
Wann hat zuletzt jemand etwas Neues am Horizont gesehen?
Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, etwa zu der Zeit von Tschernobyl, erfuhr ich, dass die Menschheit noch keine fremden Planeten betreten hatte, dass alles, was ich in dieser Hinsicht zu wissen glaubte, abgesehen von der Landung auf dem Mond, Science-Fiction war, über die sich meine Eltern miteinander austauschten. Wir unterhielten keine Ringorbitale im All, waren niemals extraterrestrischem Leben begegnet, waren nicht in andere Galaxien vorgedrungen, hatten noch nicht einmal die Grenzen des Sonnensystems erreicht. Das war ein Schock für mich! Seither habe ich selbst lesen gelernt und mich eines ganzen Jahrhundertvorrats an Science-Fiction bedient, vielleicht um jene ernüchternde Erkenntnis zu kompensieren. Hard SF, New Wave und Cyberpunk gaben mir das zurück, was ich wie in einem persönlichen Sündenfall verloren hatte: Den Sense of Wonder. Dieses Gefühl, dass sich Türen öffnen, zu unbekannten Räumen voller Möglichkeiten.
Es gab neue Räume in den 80er Jahren, Nanotechnologie, virtuelle Realitäten und viele andere mehr, in dem Jahrzehnt, in dem ich aufgewachsen bin und deren Science-Fiction ich erst jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, langsam ausgeschöpft zu haben glaube. Die Zukunft hat mein Leben geprägt, jetzt lebe ich in ihr und sie ist in gewisser Weise enttäuschend.
Eines der jüngsten Werke, die mich den Sense of Wonder haben spüren lassen, war „Transmetropolitan“ von Warren Ellis. Vor allem die ersten zwei Bände der Graphic Novel sind ein Feuerwerk an Wundern, wenn man sie zur richtigen Zeit gelesen hat (wie es einem heutigen Leser gehen mag, kann ich nicht einschätzen. Möglicherweise liegt meine Begeisterung auch darin begründet, dass ich zu jenem Zeitpunkt selbst noch eine geringe Leseerfahrung besessen habe. Heute wird mir klar, dass vieles was Ellis hier beschreibt, bereits eine Aufarbeitung älterer Themen darstellt). Diese Bände sind mehr als fünfzehn Jahre alt, stammen aus dem letzten Jahrtausend. Was ist aus all diesen Wundern geworden?
„Where’s the future we were promised?“(2)
What do you do when you are promised no future beyond the next Steve Jobs keynote address or summer blockbuster movie?“(3)
Wo sind zwanzigspurige Schwebeautobahnen und Hyperraumreisen, Teleportation und Antigravitation und alles andere, was uns prophezeit wurde, und wovor Smartphones und Facebook und Googlebrillen vor Neid erblassen müssen? Sie sind in der Science-Fiction und nirgendwo sonst.
Dort gibt es keinen Mangel daran. Aus dem, was mir so ganz spontan einfällt, ergibt sich ein reichhaltiger Katalog aus Möglichkeiten, wie Kleider von der Stange, aus denen ein zeitgenössischer Autor/Regisseur/Illustrator/Gamedesigner/(…) sein persönliches Setting zusammensetzen kann: Will ich Klone, oder nicht? Will ich Teleportation und Antigravitation, oder nicht? Hovercars oder Jetpacks? Soll es K.I’s geben, oder nicht? Tausend Gemeinplätze und Klischees sind im kollektiven Bewusstsein bereits vorhanden und müssen nur noch angetippt werden, um im Leser/Rezipienten ein entsprechendes Bild hervorzuholen. So kommt mir die Science-Fiction der Gegenwart vor. Nicht sehr innovativ.
Vielleicht sitze ich einem Vorurteil auf. Vielleicht habe ich die „echte“ Science-Fiction des neuen Jahrtausends nur noch nicht gefunden, habe das Falsche gelesen, aber es scheint so, als ob die letzten Stücke Literatur und die letzten Filme, die den Sense of Wonder erzeugen konnten aus den 80er und 90er Jahren stammen. Iain Banks‘ frühe „Kultur“-Romane, die „Cyberpunk“-Anthologie und „Neuromancer“ von William Gibson, vielleicht auch Vernor Vinges „Zones of Thought“-Bände „A Fire upon the Deep“ und „A Deepness in the Sky“. Wann hat jemand zuletzt etwas Neues am Horizont gesehen? Und das Neue ist wesentlich für die Science-Fiction, der Sense of Wonder ist ein wesentliches Merkmal, das sie von Fantasy unterscheidet. Ohne ihn ist Science-Fiction irgendwie keine Science-Fiction. Auch das mag Ansichtssache sein, aber ich kann zumindest auf Norman Spinrad und andere SF-Autoren verweisen.
„This hunger for the experience of flashes of transcendental consciousness through and not despite the onrushing advance of science and technology has always been central to what made those people who read science fiction read science fiction.“(4)
Gut, der Sense of Wonder definiert die Science-Fiction nicht ausschließlich. Eine andere notwendige Bedingung hat, zumindest für Anhänger der Hard SF, Vorrang: Die Bedingung des zu Grunde liegenden Realismus. Was in der Science-Fiction vorgeht, soll die Grenzen des als real Vorstellbaren nicht überschreiten. In diesem Sinne ist es natürlich weiterhin und womöglich jederzeit in der Zukunft möglich, Science-Fiction zu schreiben. Warum auch unbedingt etwas Neues erzählen müssen? Ich stelle mir vor, dass klassische Hard SF sinnbildlich Strecke in der Länge vorlegt und die New Wave der 60er Jahre stattdessen, oder darüber hinaus, literarisch und psychologisch in die Tiefe geht. Möglicherweise ist heute die Science-Fiction einfach nur in eine Phase der Breite eingetreten. Es ist auch nicht nötig, etwas Bahnbrechendes zu schreiben, um eine interessante, spannende und vielleicht in vielerlei Hinsicht relevante Geschichte zu erzählen. Ich denke an die „Punktown“-Erzählungen von Jeffrey Thomas. Ein ziemlich vertrautes Set aus bekannten Modulen. Trotzdem war ich begeistert, nur öffnet sich hier keine bis dahin verborgene Tür. Der Raum, der zu erkunden ist, hat bereits Gestalt, ist in seinen wesentlichen Dimensionen schon ausgemessen.
Es ist Zeit, von der Frage her zu einer These fortzuschreiten:
Die heutige Science-Fiction befindet sich in der schwierigen Lage, keine neuen Räume auftun zu können, denn das kollektive Bewusstsein ist längst über den heutigen Stand der Technologie hinaus vorgedrungen und umfängt bereits den geistigen Raum des zurzeit Denkbaren.
„The imaginative loss of the future is becoming accute.“(5)
Symptomträger
Ich weiß nicht mehr, wann mir das Phänomen zum ersten Mal bewusst wurde, sicher aber hat William Gibsons neueres Werk damit zu tun, das ich hier der Einfachheit halber als Gegenwartssciencefiction bezeichnen möchte. Die Zukunft aus Gibsons früherem Werk ist Gegenwart geworden, darum erschöpft sich die Spekulation über die Zukunft in der Beschreibung der Gegenwart.(6)
“The future is already here – it’s just not evenly distributed.“(7)
„You live in the future and you don’t know it.“(8)
Zuletzt las ich Iain Banks‘ Short Story „The State of the Art“, die zu Banks‘ „Kultur“-Reihe zählt und die einzige Erzählung aus dieser Reihe ist, in der die Erde eine explizite Rolle spielt. Darin wird ein Aspekt des Unterschieds zwischen der Erde und der interstellaren und hochtechnisierten Zivilisation der Kultur folgendermaßen dargestellt: Auf der Erde des 20. Jahrhunderts schreitet technologische, wie auch gesellschaftliche Entwicklung rasend schnell voran. In der Kultur hingegen ist der aktuelle Stand der Technologie, wie des gesellschaftlichen Lebens im Wesentlichen derselbe, wie in Jahrtausenden zuvor. An Perfektion grenzende Maschinen, ein an Perfektion grenzendes System braucht keine Fortentwicklung mehr.
Es gibt nichts Neues jenseits des Neuen. Und was kam in der Science-Fiction Neues nach dem Cyberpunk?
“And after the Cyberpunk Movement there came . . . There came . . . There came a lame series of marketing attempts to create artificial „movements“ to cash in on the commercial success of „Cyberpunk“ as a marketing label and a self-proclaimed literary movement in the macroculture. „Splatterpunk.“ „Steampunk.“ „Elfpunk.“ „Punkpunk.“ Whatever….“(9)
Ideen des Cyberpunk sind längst im Mainstream aufgegangen. Ein anderes Genre, das ursprünglich als Spielart des Cyberpunk begonnen hat, der Steampunk, ist in den letzten Jahren von einer Bewegung hin zur beginnenden Massenkultur fortgeschritten. In ihm sehe ich meine These auf exemplarische Weise gestützt: Steampunk ist Retro-Science-Fiction. Prototypisch ist er nicht in der Zukunft angesiedelt, sondern in alternativen Geschichtsverläufen, die irgendwo in der Zeit der Industrialisierung abgezweigt sind. Alternativwelten ermöglichen es, what-ifs, was-wäre-wenns durchzuspielen, ohne Extrapolationen in die Zukunft legen zu müssen. Ungenutzte Möglichkeiten einer Technologie der Vergangenheit: Was wenn Charles Babbages Differenzmaschine wirklich gebaut worden wäre und das digitale Zeitalter hundert Jahre früher eingesetzt hätte…? Nur ein Beispiel.
Man kann Alternativwelten mögen oder nicht, aber das Basteln an vergangener Technik schmeckt angesichts des Fehlens zukunftsgerichteter Topoi in der Science-Fiction irgendwie nach Ideenarmut. Ich will es noch einmal positiv ausdrücken: Steampunk weist auf eine gewisse Ideenarmut hin. Aus dem Mangel an Material für bahnbrechende Ingenieurskunst (im Rahmen der Science-Fiction) entsteht die Bastelei am Anachronismus. Von hier liegt der Schritt zum magischen Denken, zum wilden Denken, zum mythischen Denken nicht fern.(10)
Eine Bewegung hat eine Richtung und Vertreter des Steampunk formulieren darüber hinaus sogar Ziele.
„Steampunk: Colonizing the Past so we can dream the future.“(11)
If Steampunk has a mission, it is, in part, to restore a Sense of Wonder to a technology-jaded world.(12)
Gesellschaftspolitisch erkenne ich Ähnlichkeiten zu postzivilisatorischen Ansätzen anarchistischer Theorie.(13) Dem Genre Belanglosigkeit vorzuwerfen erscheint mir überheblich. Wie es allerdings mit dem Sense of Wonder im Reich der Anachronismen bestellt ist? Als Leser wie auch als Autor fantastischer Erzählungen kann ich nur sagen, dass er sich bei mir nicht so richtig einstellen will. Ich nehme an, es geht im Steampunk eher darum, herauszufinden, wann uns der Sense of Wonder abhandengekommen ist. Zumindest weist der starke Anklang von Nostalgie, der das Genre charakterisiert, darauf hin.
Ich komme auf Vernor Vinge zu sprechen, genauer auf die ersten beiden Romane aus dem „Zones of Thought“-Universum. Vinge beschreibt in einem Nachwort auf „A Deepness in the Sky“ die Anlage der Zonen des Denkens als darin begründet, dass über eine ferne Zukunft angesichts der von Vinge prognostizierten Technologischen Singularität [im Folgenden kurz Singularität] keine plausiblen Spekulationen möglich seien. Das Universum, oder zumindest die Galaxis in Zonen einzuteilen, von denen eine das Eintreten der Singularität physikalisch unmöglich macht, schafft die Voraussetzung für den Autor, mit gutem Gewissen eine Geschichte erzählen zu können. Einen ähnlichen Trick wendet Vinge an, indem er seine Aliengesellschaft durch den Fokus menschlicher Protagonisten anthropomorph beschreibt, dies aber explizit thematisiert und als Kunstgriff eines Bewusstseins entlarvt, dass das Neue nur im Gewand des Alten erkennen und verstehen kann. Und da sind wir: bei der Singularität. Vinge hat ihr Eintreten für irgendwann zwischen 2005 und 2030 prophezeit, Ray Kurzweil visiert ebenfalls das Jahr 2030 an. Durch die Erschaffung künstlicher Intelligenzen, die fortan sich selbst ohne Hilfe des Menschen werden weiterentwickeln können, werde die Menschheit obsolet, komme an den Endpunkt ihrer eigenen Geschichte.
„Maybe it’s man’s destiny to build live machines and then bow out of the cosmic picture.“(14)
„We will soon create intelligences greater than our own. When this happens, human history will have reached a kind of singularity, an intellectual transition as impenetrable as the knotted space-time at the center of a black hole, and the world will pass far beyond our understanding. This singularity, I believe, already haunts a number of science-fiction writers. It makes realistic extrapolation to an interstellar future impossible. To write a story set more than a century hence, one needs a nuclear war in between … so that the world remains intelligible.”(15)
Terminus est
An diesem Punkt der technologischen Entwicklung soll alle Vorhersagbarkeit, soll alle plausible Extrapolation enden. Darüber hinaus gibt es in der Konsequenz einfach nichts mehr zu sagen. Alles was doch gesagt wird, ist haltlose Spekulation, ist keine Science-Fiction, sondern Science-Fantasy. Rieche ich hier ein Denkverbot? Ein Dogma? Möglicherweise hat mich meine literarische Indiziensuche zum Täter geführt. Die Singularität setzt der Science-Fiction das Messer auf die Brust. Ist das so? Geht deshalb alles in die Breite, weil es wirklich nicht mehr weiter voran geht? Ist der Schritt zur Seite in die ungelebten Möglichkeiten der Vergangenheit der einzige Weg, der noch zum Sense of Wonder führen kann?(16)
Ich nehme an, für viele bekennende Transhumanisten hat der Glaube an die Singularität tatsächlich religiöse Qualität. Ein Dogma wäre da doch wahrscheinlich. Allerdings wäre das doch ein eine gewaltige Ironie, wenn transhumanistisches Denken, dass sich der bedingungslosen, grenzenlosen Evolution des Menschen verschrieben hat, der Evolution spekulativen Denkens einen Riegel vorsetzte. Jetzt muss ich an das Diktum denken, Demokratie sei das beste aller denkbaren Gesellschaftssysteme, auch so eine Grenze des Denkens und jeder Beweis über die bloße Theodizee hinaus bleibt aus.
Und jetzt? Sind wir am Ende der Geschichte angelangt? Sind die Tage der Menschheit bereits gezählt? Sind wir längst transhuman? Sind alle Felder bereits bestellt? Wo liegt die nächste Utopie? Für die Belange der Science-Fiction sollte die Frage vielleicht besser lauten: Wie kommt man jenseits bekannter Topoi? Im Vorigen Absatz habe ich einer Dystopie Ausdruck verschafft. Ideenarmut und Denkverbot als Charakteristikum der näheren Zukunft. Und so stoße ich selbst an die Grenzen des Denkbaren. Dystopie ist längst ein Gemeinplatz kollektiven Bewusstseins, ist allgegenwärtig in Literatur und Film, ist absolut nichts Neues. In einer angsterfüllten Gesellschaft wie der unseren ist das auch kein Wunder, nehme ich an. Angst evoziert nun mal Schreckgespenster. Möglicherweise setzt der Sense of Wonder ja ein gewisses Maß an Optimismus voraus.
Die Science-Fiction gestaltet die Welt mit und Neal Stephenson hat wahrscheinlich recht, wenn er von ihr positives, optimistisches Denken verlangt, um der Zukunft nicht nur dystopische Ideen in die Wiege zu legen.(17) Allerdings: Der bekennende Transhumanismus ist eine optimistische Denkweise. Technologie ist ihr Heilsbringer und sie erinnert stark an den Fortschrittsglauben der vorletzten Jahrhundertwende, den stromlinienförmigen Entwurf der Zukunft aus den Anfängen moderner Science-Fiction. Offensichtlich aber bringt das auch keine neuen Räume hervor.
Kann es sein, dass wir angesichts der Mannigfaltigkeit uns im Laufe der letzten Jahrzehnte prophezeiter Zukünfte in einen Zustand der Paralyse verfallen sind? Haben wir schon so viel von der Zukunft geträumt, dass uns jetzt, wo wir ihr im Wachsein begegnen, nichts mehr zu träumen übrig bleibt?
Das Weiße Loch
Der Transhumanismus bleibt einem einfachen Realismus verhaftet.(18) Jenseits des einfachen Realismus liegt das Reich des Subjektiven. Spinrad postuliert eine Verschmelzung von SF und Fantasy – darüber hinaus sogar die Entstehung einer neuen Form.(19) Liegt darin eine Hoffnung für den Sense of Wonder?
Fantasy ist ein Genre der Archetypen. Archetypen sitzen tief im kollektiven Unbewussten und das schon seit der Urzeit Menschlicher Geschichte. Ich behaupte, dass dieser Charakterzug der Science-Fiction genau entgegenläuft. Science-Fiction ist gerade keine Archetypenliteratur. Wenn überhaupt, arbeitet sie daran, neue Archetypen zu schaffen, und das zu erreichen, wäre vielleicht ihr größter Verdienst. Schaue ich mir zwei wesentliche Topoi der Fantasy an, nämlich zum einen die Möglichkeit, dass Körper, Geist und Seele getrennt voneinander existieren könnten und zum anderen, dass alles, was ein Wesen hat auch Bewusstsein erlangen könnte, dann fällt mir auf, dass Science-Fiction irgendwo am Ende der hypothetischen Sackgasse genau diese Topoi erobert hat. Nanotechnologie, virtuelle Realitäten und künstliche Intelligenz schaffen dafür die Grundlage. Allmacht und Allwissenheit in Form intelligenter Materie bilden die Quintessenz der Science in Science Fiction. An diesem Berührungspunkt zwischen Science-Fiction und Fantasy liegt die Schwelle zu esoterischen Gefilden. Dinge, die sich nicht mehr a priori und rein rational begründen lassen. Dinge, vor denen klassische Science-Fiction zurückschreckt, die die Fantasy dagegen viel besser verkraftet.
Science-Fiction erobert Topoi der Fantasy, Fantasy aber erobert längst auch Topoi der SF.(20) Um dieser Lage Herr zu werden, braucht es schon eine Literatur, die mutig die Grenzen zwischen den Genres überschreitet. Eines der jüngsten unterscheidbaren Subgenres der Phantastik mit starkem Bezug zur Science-Fiction, historisch um die Wende des Jahrtausends angesiedelt, ist die New Weird. Schon die klassische Weird Fiction hat Genres transzendiert, hat Science-Fiction, Fantasy und Horror vereint und ihr spätes Kind tritt in dieselben Spuren, nur vielleicht mit größeren Füßen. Als einer der Hauptstimuli und im Weiteren als Charakteristikum wird aufgeführt, dass nicht wie in klassischer Horror- und Weird-Literatur die Konfrontation mit dem Monster im Mittelpunkt steht, sondern das, was nach der Konfrontation kommt, bzw. nach der Transmutation z.B. des Protagonisten in ein Monster. Hier stellt sich die Frage nach einer Veränderung des Bewusstseins. Vielleicht steckt der Sense of Wonder zeitgemäßer Science-Fiction wirklich nicht in der Spekulation über zukünftige Technologie, sondern in der Spekulation über die weitere Entwicklung menschlichen Bewusstseins. Seit dem Linguistic Turn und der Erfindung der Psychoanalyse und des LSD weist sowieso alles in diese Richtung.
Vielleicht ist Weird die passende Beschreibung für die aktuelle Stufe menschlichen Bewusstseins. Weird spricht ein Unbehagen aus, ein Gefühl der Fremdheit und einen Horror angesichts des Übernatürlichen. Mag sein, dass dieses Unbehagen und Gefühl der Befremdung angesichts der Erwartung der Singularität universell zu werden beginnt.
„The Singularity is Science-Fiction.“(21)
Die Singularität ist selbst eine Science-Fiction-Story, die allerdings am spannendsten Punkt abbricht. An dem Punkt, an dem die TS selbst eintritt, dem Moment um den es doch eigentlich geht. Und wenn man über das, was dann kommt, keine Aussagen mehr treffen kann, alles, was man noch sagen kann, dem, was zu erwarten ist, nicht gerecht werden kann und wenn doch, es so sehr zur Unverständlichkeit gerät, dass es jeglichen Anschlusses an das eigene Verstehen entbehrt, wie sich dann angesichts der Singularität nicht entmutigt und befremdet fühlen? Wie sehr fremd darf etwas sein, um noch den Sense of Wonder zu evozieren? Alles was erkannt wird, muss doch einen Anteil von bereits Bekanntem, Verstandenem enthalten.
Müssen wir erst die Singularität durchschreiten, um neue SF schreiben zu können?
Immerhin, wenn alles Weitere Sache des Bewusstseins ist: Der Sense of Wonder ist letztlich ein subjektives Moment, der Geist ist Träger aller Subjektivität, die Singularität ein spekulatives Konstrukt des Bewusstseins. Der Geist ist fähig, seine eigenen Konzepte zu transzendieren und der implizite Auftrag der Science-Fiction war nie, verlässliche Aussagen über die Zukunft zu machen. Ebenso wenig, wie es jemals um die bloße Spekulation über technologische Möglichkeiten der Zukunft ging. Es mag so aussehen, als ob die menschliche Vorstellungskraft ausgeschöpft sei, aber Fantasie hat keine Grenzen! Wenn die Singularität nichts weiter als Science-Fiction ist, dann kann ich hoffen, dass die Science-Fiction ihr eigenes Dogma überwinden, die Singularität also transzendieren wird und der Sense of Wonder wieder gedeihen kann.
„The future is a process and not a destination. The future is not a noun, it is a verb.“(22)
Dort draußen ist etwas. Eine Möglichkeit, die noch nicht gedacht wurde. Irgendwo in den Tiefen zwischen den Sternen oder anderswo. Dieses Etwas zieht an uns. Es will ans Licht. Also lasst die Tür angelehnt und haltet die Augen offen, und wenn es nicht zu fremdartig ist, um dem menschlichen Bewusstsein aufzufallen, dann wird irgendein glücklicher Autor darüber eine Geschichte schreiben.
Wenn aber die Singularität nicht mehr lange bloße Science-Fiction bleibt? Wenn wir wirklich bald das Ruder aus der Hand legen müssen, das Zepter an unsere Nachfolger in Form intelligenter Maschinen weitergeben? Dann finde ich, wir sollten sie bitten, sich herab zu lassen, uns greisen Müttern und Vätern ihrer Gattung ein paar ihrer Geschichten zu erzählen. Auf das wir wieder werden staunen können!
Erstveröffentlichung in IF Magazin #2 (Whitetrain, 2014)
Retrospektion
Es liegt in der Natur einer Frage, dass man Antworten auf sie nur im Nachhinein erwarten kann und zuweilen kommen Antworten auch erst mit einiger Verspätung hinterher. Heute, drei Jahre nach Erscheinen des oben stehenden Artikels in IF Magazin #2, bin ich überzeugt, dass die darin enthaltenen Fragen noch immer Fragwürdiges betreffen. Nach wie vor scheint mir die Science Fiction vor einem zum Teil selbstgewobenen Schleier zu stehen, den sie nicht durchdringen kann. Heute wie damals suche ich den Sense of Wonder in der Science Fiction meist vergeblich, bleibt sie meist vor dem Schleier der Technologischen Singularität stehen oder gerät, wo sie doch den Sprung in ein Danach wagt, in Wiederholungen, bleibt in ihrer selbstgelegten Schleife hängen. Allerdings entdecke ich einen Schwachpunkt des Artikels in der Auswahl besprochener Werke aus der Zeit nach der Jahrtausendwende. Erst im Nachhinein sind mir Romane wie Accelerando(23), von Charles Stross, Blindflug und Echopraxia(24) von Peter Watts, sowie seine Rifters-Trilogie, beginnend mit Abgrund(25), untergekommen, die in mir den Sense of Wonder zu wecken wussten. Vernor Vinges Am Ende des Regenbogens(26) ist in den letzten zehn Jahren deutlich gealtert, war aber bei seinem Erscheinen visionär. Auch William Gibsons jüngster Roman, Peripherie(27), wagt einen Sprung aus der Nahzukunft/Gegenwart in eine nach einer (nicht technologischen) Singulariät liegende Zukunft und befriedigt meine Lust auf Ungesehenes. Jonathan Strahan gibt seit einigen Jahren angefangen mit Engineering Infinity(28) eine Reihe von Anthologien mit dem Anspruch heraus, den Sense of Wonder in der Science Fiction wiederzufinden. Dietmar Daths Venus siegt(29), vor allem aber die in der Taschenbuchausgabe angefügte Erzählung Venus lebt, haben mich begeistert. Sicher gibt es weitere Beispiele, die meine Skepsis widerlegen, doch zuletzt möchte ich Cixin Lius Die drei Sonnen(30) und dessen zwei Fortsetzungen erwähnen. Vielleicht ist die europäische und angelsächsische Leserschaft von Science Fiction erst jetzt bereit, sich für Zukunftsblicke aus anderen Teilen der Welt, wie die Cixin Lius, zu öffnen, und das ist für sich schon eine zukunftsweisende Entwicklung, die den Sense of Wonder in den kommenden Jahren wieder aufleben lassen mag.
1 Brave New Words. The Oxford Dictionary of Science Fiction, 2007
2 Warren Ellis: Doktor Sleepless Volume 1. Engines of Desire, 2004
3 Jake von Slatt: a Steampunk Manifesto; in: Jeff Vandermeer (Hg.): the Steampunk Bible, 2011
4 Norman Spinrad: the Future of Science-Fiction; in: Nebula Winners 14, 1980
5 Bruce Sterling: The Singularity. Your Future as a Black Hole, 2004 http://longnow.org/seminars/02004/jun/11/the-singularity-your-future-as-a-black-hole/
6 vgl. William Gibson: Interview in The Economist, Dezember #4, 2003
7 s. ebd.
8 Warren Ellis: Doktor Sleepless Volume 1. Engines of Desire, 2004
9 Norman Spinrad: On Books. Movements; in: Asimov’s Science-Fiction, 2002
http://www.asimovs.com/_issue_0210_11/onbooks.shtml
10 Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, 1962
11 Prof. Calamity
http://prof-calamity.livejournal.com/277.html
12 The New York Times: Steampunk Moves Between 2 Worlds, 8. Mai 2008
http://www.nytimes.com/2008/05/08/fashion/08PUNK.html/?_r=2&
13 vgl. Margaret Killjoy: Take What You Need and Compost the Rest. an Introduction to Post-Civilized Theory
http://theanarchistlibrary.org/library/Margaret_Killjoy__Take_What_You_Need_And_Compost_The_Rest__an_introduction_to_post-civilized_theory.html
14 Fritz Leiber: „the Creature from the Cleveland Dephths“, 1962
15 Vernor Vinge: Omni magazine, Januar 1983 – vgl. auch: Vernor Vinge: The Coming Technological Singularity. How to Survive in the Post-Human Era, 1993
16 vgl. Jake von Slatt: a Steampunk Manifesto; in: Jeff Vandermeer (Hg.): the Steampunk Bible, 2011
17 vgl. Neal Stephenson: Project Hieroglyph
http://hieroglyph.asu.edu/about/
18 vgl. Reinhard Heil: der Transhumanismus; in: Sic et Non, Bd. 4, Nr. 1, 2005
http://www.sicetnon.org/index.php/sic/article/view/144/158
19 Norman Spinrad: On Books. Movements; in: Asimov’s Science-Fiction, 2002
http://www.asimovs.com/_issue_0210_11/onbooks.shtml
20 vgl. Ebd.
21 Noam Chomsky: Interview auf Singularity Weblog
http://www.singularityweblog.com/noam-chomsky-the-singularity-is-science-fiction/
22 Bruce Sterling: The Singularity. Your Future as a Black Hole, 2004
http://longnow.org/seminars/02004/jun/11/the-singularity-your-future-as-a-black-hole/
23 Heyne, 2006 / Originalveröffentlichung: Accelerando (Orbit, 2005)
24 Heyne, 2008 und 2015) / Originalveröffentlichungen: Blindsight (Tor, 2006) und Echopraxia (Tor, 2014)
25 Heyne, 2008 / Originalveröffentlichungen: Starfish (Tor, 1999)
26 CrossCult, 2016 / Originalveröffentlichung: Rainbow‘s End (Tor, 2006)
27 Tropen, 2016 / Originalveröffentlichung: The Peripheral (Putnam, 2014)
28 Infinity Project #1 (Solaris, 2011)
29 Originalveröffentlichung: Halblizel. 2015 / Taschenbuch: Fischer Tor, 2016
30 Heyne, 2016 / Originalveröffentlichung: 三体 (Chongqing Press, 2008)