Also schreiben wir eine neue Geschichte.
Seit Tagen derselbe Traum: bei einer Präsentation vor versammeltem Management fiel ihm auf, dass er keine Hosen trug. Der Versuch, die Konzentration seines Publikums auf das Thema des Vortrags aufrecht zu erhalten, schlug natürlich fehl. Alle glotzten ihm unter die Gürtellinie. Trotzdem durfte er jetzt auf keinen Fall unterbrechen. Zu viel Arbeit war in den Vortrag geflossen, hunderte Stunden, zu viel hing davon ab. Also redete er weiter und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme so gut es ging, sich dabei sehr bewusst, dass sein Gesicht vor Scham glühte. Das Management. Eine gesichtslose Menge in Hofkleidung, gepuderten Perücken. Die feine Gesellschaft. Im Gegensatz dazu er, in der Position eines regelmäßig beauftragten Freelancers, auf ihr Wohlwollen so angewiesen wie eine Milchkuh auf Fütterung und das tägliche Melken. Unwillkürlich, aufgrund eines Gefühls, als sei ihm das Genick gebrochen, fiel sein Blick auf das, was sie sahen. Seine Roboterbeine und das Nichts dazwischen. Kein Fortpflanzungsorgan, weder männlich noch weiblich. Kein Geschlecht und also kein Hinweis darauf, dass er lebendig oder gar ein Mensch war. Nur eine Maschine.
Der Traum ärgert Mog zutiefst. Er lässt ihn nicht nur schlecht vor sich selbst dastehen. Er ist auch von der Art, die allzu symbolisch wirkt. Diese Art Traum, die sich jemand ausgedacht haben mag, um ihn auf etwas hinzuweisen. Eine Allegorie, ganz offensichtlich. Der Traum deutet darauf hin, dass sich jemand an seinem Bewusstsein zu schaffen macht.
Jemand – ein Algorithmus … Mog drängt den Gedanken so gut es geht beiseite.
Heute ist der Tag der Enthüllung. Mog geht zu Fuß. Breite Boulevards mit zwei Fahrstreifen und Grünanlage dazwischen. Reihen von Pappeln. Auf diesen Straßen sind nirgends zu viele Leute unterwegs, immer nur so viele, dass sie belebt wirken ohne Enge zu erzeugen. Schwarze Kutschen befördern das Management in Richtung des Zikkurat. Die Passanten lächeln. Man geht von allen Sorgen befreit und genießt den Anblick leuchtender Fassaden. Pastelltöne und Stuck. Der Boulevard mündet in die Prachtstraße ein. Zwischen Luxor und Karnak. Lange Meilen hell strahlenden Marmors wie eine Spiegelfläche. Palmen und hohe Zedern. Himmel aus transluzidem Blau. Obelisken und Schreine für alle Heiligen. Straßenhändler umwerben die Bürger und Bürgerinnen.
Wieder drängt der Traum in sein Bewusstsein. Eine offensichtliche Botschaft oder eine Reaktion auf das Offensichtliche. Ein Kribbeln im linken Bein und ein Jucken auf der Fußsohle veranlassen Mog dazu stehenzubleiben. Er blickt an sich hinab bis zum Schuh. Dessen Nähte sind gerissen. Mit zerschlissenem Schuhwerk sieht Mog wie ein Landstreicher aus. Er schämt sich zutiefst. Wie kann so etwas nur geschehen?, fragt er sich. Die Lizenz ist noch ganz neu. Auch ist der rechte Schuh unversehrt. Das Kribbeln und Jucken im linken Fuß wird so störend, dass Mog sich fest zusammenreißen muss, um nicht aufzustampfen oder sich den Schuh vom Fuß zu ziehen und einbeinig stehend an der Sohle zu kratzen. Nervöses Zucken des Beins. Ein Verlagern des Gewichts vom Ballen auf die Ferse und zurück. Mog hält auf einen nicht weit entfernten Stand zu, an dem Sportschuhe angeboten werden. Er leistet sich die Lizenz für ein teures Paar und fühlt wie sich das neue Schuhwerk um seine Füße schließt und seine Erscheinung in einen wünschenswerten Zustand zurückversetzt. Endlich lässt auch das Jucken nach.
Er geht weiter. Nun verdichtet sich der Menschenstrom zur Menschenmenge. Der Zikkurat thront voraus wie das Auge Gottes, darüber die gleißende Sonnenscheibe ein Heiligenschein. Mog sieht Leute, die er kennt, von der Arbeit und aus seinem Privatleben. Es mögen einhunderttausend Menschen auf der Prachtstraße sein, doch obwohl ihm kaum mehr als eines von hundert Gesichtern bekannt sein kann, erscheint die Zahl nicht zu groß. Das Maß des Vertrauten wird durch sie nicht überschritten.
Bald finden sich Kollegen zusammen, zu denen er sich zugehörig fühlt. Mit ihnen tauscht er Nettigkeiten aus. Ihre Blicke wenden sich dem heraufziehenden Schauspiel zu. Zwischen Sonne und Zikkurat bildet sich Nebel. Ein Schimmer, der Licht in alle Farben zerbricht. Langsam sinkt der Nebel auf den Prachtbau herab und umhüllt ihn als bade die Sonne die Mauern in einem Schaum schillernder Blasen. Dann schält sich die erhöhte Spitze heraus und von ihr abwärts wird das Bauwerk enthüllt. Wie in der Keynote angekündigt, erstrahlt der Zikkurat neu in funkelndem Gold. Die Spitze verjüngt, der Winkel somit verschlankt, die gestuften Flanken mit Zinnen in Form von Flammen gezackt und die Oberfläche trägt nun, als der Schimmer ganz herabsinkt und alles entblößt, das neue Emblem von Escape. Ein raunen geht durch die Menge und entfaltet sich in entspannten Jubel. In Wellen aus Glanz ergeht der Schimmer in alle Richtungen, flutet die Prachtstraße, übergießt die Menschen und lässt nichts unveredelt. Mog spürt an sich selbst die Veränderung und sieht sie an seinen Kollegen. Jede Kontur ist geschärft, jede Farbe erneuert und leuchtender als zuvor. Die Welle macht aus ihnen allen Prinzessinnen und Prinzen des Augenblicks.
Über ihren Köpfen wachsen Gleise für Schwebebahnen, verzweigen sich, verstreben sich und bilden netzförmige Ebenen, an deren Knotenpunkten Kristalle entstehen, die sich zu Luftschlössern erheben. Diese leiten das atmosphärische Blau und die Sonnenstrahlen, sodass nichts vom Firmament wirklich verdeckt wird. Vielmehr werden der Himmel und die Stadt eins.
Die Droschken der Honoren und Funktionäre, nahe am Zikkurat, lösen sich vom gleißenden Pflaster und schweben entlang Gleisbahnen hinauf. Ihre Entrückung lässt Mog und seine Kollegen, jeden Bürger und jede Bürgerin den Atem anhalten.
Mog glaubt, sogar sein Herz bleibe stehen.
Für einen einzigen Augenblick sieht er einen Schatten wie den eines großen Vogels sich aufschwingen. Sein Herzschlag setzt wieder ein und klopft ihm bis zum Hals. Als habe er das gespürt, dreht sich ein Kollege zu ihm um. Sein Gesicht erscheint Mog bleich und ausgezehrt. Der hohläugige Blick des Bekannten sticht in ihn hinein. Mog fühlt sich von der Szenerie entfernt, als treibe er auf einem Boot vom Ufer des Geschehens um ihn her ab. Er verliert beinahe sein Gleichgewicht, doch nur für Sekunden. Dann normalisiert sich der Anblick und Mogs Herz holpert über eine Schwelle, jenseits derer es zu seinem üblichen Rhythmus findet.
Das Jucken auf seiner Fußsohle meldet sich indes zurück.
Nun ist die Menge still, alle schauen nach oben, wo sich die feine Gesellschaft entfernt. Die zurückbleiben, verlieren ihren Glanz, der sie nur für die Länge eines ausgedehnten Atemzugs wie verzaubert hat.
Übrig bleibt ein Gefühl unbestimmter Leere, ein vages Katergefühl wie am Morgen nach einem Rausch. Es heißt nun wieder ans Werk gehen, während sich die neue Verfassung der Stadt auf allen Ebenen etabliert.
Mog hatte seine Rechte aufgegeben, sobald es ihm möglich gewesen war, und damit den vollen Status als Mitbürger erworben. Er genießt wie seine Kollegen umfassende Versorgung, Gesundheit und Sicherheit intra muros. Dass ihm an nur einem Tag zwei Paar Schuhe aus den Nähten gegangen sind und er Grund hat zu glauben, dass er gezielt mit falschen Träumen attackiert wird, bringt Mog aus der Fassung. Gaston gegenüber hält er sich nicht zurück.
„Meinst du wirklich, dass etwas durchdringt“, fragt ihn Gaston, nachdem Mog sich Luft gemacht hat.
Nach dem Ereignis der Enthüllung hatte Mog dem dringende Bedürfnis nach einem Freund nachgegeben und eine Kontaktbar aufgesucht. Sie bietet Raum für Zufallsbegegnungen, Stelldicheins, Blind Dates und herzliches Wiedersehen. Außerdem ist sie im Bereich des Tresens genauso zugeschnitten wie tausend andere Bars, was den Eindruck von Vertrautheit, den Mog hier sucht, immens verstärkt.
Die beiden Freunde kennen sich lange genug, damit Gaston die Unruhe Mogs am eigenen Leib spürt. Sie sitzen nun auf der Freiterasse der Lounge-Bar unter freiem Nachthimmel, dessen Sterne vom kristallenen Caelum vielfach verstärkt leuchten. Mog hat nicht aussprechen müssen, woran sie beide nun denken. Alte Malware, die eigentlich längst ausgemerzt ist, jedoch hartnäckigen Gerüchten zufolge noch immer irgendwo schwelt und auf ihre Zeit wartet. Sie sind online auf voller Bandbreite. Auch im Ruhezustand teilen die beiden Worte und Blickwinkel mit dem Datenstrom, sodass Gastons Frage und seine wenig später geäußerte Überzeugung in das größere Bewusstsein, das Noos hineinsickern. „Es ist nicht möglich.“ Ein Moment der Spannung wird übertragen. Mogs Zögern und Vorbehalt, den er seinerseits nur mittels Mimik vorbringt. Gastons beinahe beschwörender Tonfall. Mog lässt es auf sich beruhen. Sein drittes Paar Schuhe an diesem Tag sieht ihm bereits jetzt so aus, als könnte es bald aus der Form gehen.
Zu beiden Vorfällen hat Mog eine Reklamation abgesetzt. Beide wurden als Garantiefälle behandelt und ihm wurden entsprechende Beträge gutgeschrieben, ohne dass er eine Erklärung für den sonderbaren Funktionsverlust seiner Lizenzen erhält. Auch das regt Mog auf. Ihm scheint damit jene Grundvereinbarung in den Wind geschlagen, auf der das gegenseitige Vertrauen zwischen Geber und Träger fußt. Die Wahrung von Besitz ist das Fundament, auf dem jeder Warentausch beruht.
Malware ist ein Gespenst. Glaubte man an die Geschichte, so hatte früher eine ganze Menagerie an Schädlingen – Trojaner, Würmer und Viren – das Leben schwer gemacht, doch in der Stadt ist alles safe. Keine Chimären, keine Monster, die einem den Code zersetzen und Daten auffressen. Nichts, was ein geordnetes Miteinander gefährdet. Jemand wie Mog oder Gaston kann voller Zuversicht geradeaus gehen, ohne fürchten zu müssen, auf Abwege zu geraten. Und doch, gesteht Mog sich ein, sitzt der Zweifel tief. Andernfalls würde ihn nichts so an sich Nebensächliches wie der Verschleiß einiger Paar Schuhe aus der Bahn werfen. Sein Freund dringt mit Blicken in ihn und es braucht eine gewisse Zeit, bis Mog versteht. Es ist nicht so, dass Gaston ihm nicht glaubt, vielmehr ist Gaston von der Erkenntnis zutiefst verängstigt, dass er es tut. Eine Urangst hat sich geregt und ist dabei, die zwei Männer in ihren Bann zu ziehen. Vielleicht gibt es doch Monster, vielleicht waren sie wirklich niemals fort.
Insgeheim hegt Mog diese Angst schon so lange, dass er sich an eine Zeit ohne sie nicht erinnert. Sie ist unterschwellig immer vorhanden. Eigentlich sollte seine Existenz sorgenfrei sein und doch, irgendwie verleiht die Angst ihr auch Sinn. Nur daran, dass Gaston die Angst teilen könnte, hat er nie gedacht. Er scheint dazu viel zu sehr mit seinen Aufreißereien und Sexgeschichten beschäftigt zu sein, mit dem ganzen Trubel des Stadtlebens, mit dem Klimbim. Jetzt sieht er ihn zum ersten Mal anders. Verletzlich. Wofür Mog sich vor sich selbst schämt, dass er sich fürchtet, wird von etwas, was ihn von Gaston trennt und Mog zwingt, einen Teil von sich zu verbergen, zu etwas, das sie beide verbindet. Gemeinsam haben sie eine Schwelle übertreten, die wie ein Phantom vor ihnen lag.
Gastons Blick ist anzusehen, dass er Mogs Erkenntnis teilt. Er sieht mit einem Mal ernst aus, gar nicht mehr wie der oberflächliche Mensch, den Mog kennt. Dabei ist Gaston nur ein künstlicher Idiot. Ein Imago in Mogs Gedankenwelt, das auf einem recht simplen Code basiert und sich an Orten wie der Kontaktbar aad hoc realisieren lässt. In der Lage, Algorithmen abzuarbeiten und nützlich zu sein, auch, Mog ein Freund zu sein, ein Genosse – ja, sie beide besetzen dieselbe Stufe in Escapes Pyramidensystem. Sie bilden die Masse, zusammen mit vielen anderen, die als Codeknechte den Garten der Lüste bestellen –, doch bohrt man nur etwas zu sehr nach wahrer Überzeugung und Intelligenz, ist da nichts. Oder doch?, fragt sich Mog. Es heißt schließlich, zum Menschsein fehle dem Menschen etwas, wovon man nie gewusst habe, was es sei, nach dem man aber immer gesucht habe – nun aber wisse man es und habe es gefunden – erfunden, um genau zu sein, es sei eine Maschine und bald schon werde jeder Mensch in den Stand seines vollen Menschseins erhoben, wenn er oder sie das wolle und für sich selbst sprechen dürfe – eines vollen Menschseins mittels Maschine – darin liege die eigentliche Überraschung der Entdeckung, nämlich, dass sie außerhalb dessen liegen, was man gemeinhin zum Menschsein zähle, dem Lebendigen – es sei ein Schritt aus diesem hinaus in das Unbelebte, der den Mensch erst wirklich zum Menschen mache.
Andererseits, hielt man entgegen, sei das Leben ja selbst nur eine Funktionsweise organischer Maschinen – man habe doch lange gewusst, wo zu suchen sei, und die Entdeckung als Überraschung darzustellen, beweise nur eine Selbsttäuschung, die aus einem falschen Verständnis des Lebendigen und des Menschseins entwachse.
Doch ob nun so oder so, Gaston ergänzt Mog auf unerfindliche Weise, so als sei Mog ohne den Freund, der nur eine Maschine im idealen Sinne also nicht einmal im mechanischen sondern im Sinne einer algorithmischen Funktionsweise ist, gar kein vollständiger Mensch, keine Person. Und nun sitzen sie hier einander gegenüber und spiegeln einander ihre Ängste, die der eine wie der andere unzweifelhaft hegt, und die sie beide ausmachen. Wer keine Angst kennt, keine Furcht hegt, kann kein Mensch sein. Das Gaston sich fürchtet, erhebt ihn über das bloße Maschinesein, oder nicht? Mog und Gaston sind sich gleich, gleicher vielleicht – ja, gewiss – als Mog einem der Honoren gleich ist, die sich in das neue Escape, das wahre Escape davonmachen. Mit denen hat er in Wahrheit nichts gemein. Sie sind transzendent, spätestens seit dem Ereignis der Enthüllung am Morgen. Also, wenn Gaston lediglich Intelligenz vortäuscht, sich aus Versatzstücken von Information neue Information zusammenspinnt, um in jeder Situation beredt zu sein, ja, tatsächlich Antwort auf Fragen zu geben und dann und wann sogar als kreativ zu erscheinen, und die beiden sich doch so gleich sind, was sagt das dann über Mog aus?
Vor zahllosen Softwaregenerationen sind die Codestränge der Oberen und der Unteren bereits auseinandergetreten, haben sich verzweigt und können nie wieder zueinander finden, ebenso wenig wie ein Ast eines Baums mit einem anderen sich je verbinden wird, obwohl sie doch beide vom selben Ursprung abstammen. Dafür haben die Oberen gesorgt. Es soll kein Interbreeding geben, und die Unteren sollen unten bleiben – für immer. Was einmal Rassismus war, ist längst zur endgültigen Spezifikation getriebener Klassismus geworden. Man braucht sich also keiner Illusion hinzugeben, jemals auf jenen oberen Strang der Codeevolution aufspringen zu können, nur ist unten nicht draußen, und lassen sich als Mitglied der Dienerschaft derer dort oben immer noch höhere Ränge innerhalb dieser erringen. Niemand will draußen sein, und wenn schon unten, will man doch noch über die Untersten der Unteren sich erhaben sehen, also zur oberen Dienerklasse gehören, teilhaftig der Gaben, die von den Tafeln der Oberen fallen, jener, die schon den Rang von Göttern einnehmen. Mog hat nun die Wahl, sich über Gaston erhaben zu fühlen, oder endgültig unwiderruflich gewissermaßen für immer mit ihm und seinesgleichen den Rang der untersten Stufe einzunehmen. Auf Mog wirkt diese Erkenntnis ernüchternd. Intra muros heißt nicht nur in Sicherheit zu sein, sondern auch eingeschlossen. Insofern ist Escape eine korporeale Ironie.
Jenseits der Schwelle. Mog ist davon verblüfft, wie wenig Anstrengung es bedurfte, sich ins Reich der Fabeln zu bewegen.
Schon auf ihre wenigen zuvor geäußerten Andeutungen hin, füllen sich Mogs und Gastons Sensoren bereits mit Bestätigungen aus dem großen Bewusstsein. Als habe es nur auf eine Gelegenheit und die Genehmigung zum Einlass gewartet, feuert es nun mit unerwarteter Heftigkeit und beschlägt ihre Filter bis zur Verdüsterung. Ja, es gibt Monster, die Stadt ist voll von ihnen und das Leben in ihr ist nicht beschaulich sondern ein Abenteuer. Alle wissen es, die nur sehen wollen, die sich nicht mit dem Schein zufrieden geben. Die Welle erwischt beide Männer mit solcher Wucht, dass ihnen schwindlig wird und ihre Kortizes bitzeln. Faktoidfeuer flammt durch ihre Synapsen. Kribbeln breitet sich entlang Nervenbahnen bis in die Extremitäten aus und lässt Fingerspitzen und Zehen zucken. Mogs Fußsohle juckt wie verrückt. Durch einen Schleier aus weißem Rauschen sieht er, dass sein linker Schuh nicht nur an den Nähten aufgeplatzt ist, sondern sich gänzlich in glitzernden Staub auflöst, der wie Sporen eines aggressiv expansiven Fungus‘ oder Aschewolken aus einem Vulkankrater wirbelt. Auch sein Fuß hat sich aufgelöst und das Bein bis zum Knie. Schon beginnt das Gelenk zu flirren. Du gehst voran, hört Mog in seinem Entsetzen über das, was er sieht, so als ob die Quelle des Gesagten zwischen seinen Ohren sitzt. Im Gehirn. Doch es ist nicht seine eigene Stimme, die spricht. Bizarr verzerrt gleicht es einer Interferenz und kratzt mehr als dass es schwingt. Wohin?, fragt sich Mog. Obwohl es sich absurd anfühlt, auf die Stimme einzugehen. Fehlfunktionen, denkt Mog und stellt fest, dass er sich die Hände auf die Ohren presst und Gaston ihm gegenüber am Loungetisch dieselben Probleme haben muss, denn er tut es auch und hat dabei den Mund weit geöffnet, zu einem Schrei. Und Mog erkennt, dass auch er selbst schreit, wenn auch er selbst es nicht hört wie er auch Gastons Schrei nur sieht und nicht hören kann, weil die Stimme bereits sein Vermögen zu Hören ausfüllt mit einem Kanonenschlag in den Worten MEMENTO MORI.
Gaston kotzt. Der leuchtblaue Cocktail, den er getrunken hat, ergießt sich als leuchtblaue Kaskade vom Rand der Terrasse und Mog muss lachen, als er das sieht. Es ist ein hysterisches Lachen. Mog ist im Schockzustand, der ihn sich selbst wie einen anderen sehen lässt. Einen Körper auf nur einem intakten Bein. Das andere reicht nur bis knapp über das Knie, das sich mitsamt allem darunter bis zur Fußspitze wie kurzlebiger Dampf verflüchtigt hat. Atome, die unsichtbar herumschweben und nach der Idee eines neuen Körpers suchen, dem sie sich anschließen können.
Unterdessen schlagen wie eine Reihe Meteoriten neue Brocken von Gerüchten bei ihnen ein. Ein trojanisches Pferd befindet sich intra muros. Die Paläste senden Prätorianer aus, um den aus dem Pferd strömenden Angreifern zu begegnen. Aus dem Untergrund ist ein Erobererwurm in der Stadt aufgetaucht. Er verschlingt Gebäude und Menschen. Priester eilen mit heiligen Waffen herbei und nehmen den Kampf gegen ihn auf. Eine Seuche greift unter den Bürgern um sich. Sie frisst Persönlichkeit aus den Köpfen und lässt lebende Leichname zurück, die sie wahllos weiterverbreiten. Banden von Abenteurern ziehen durch die Straßen und schlagen die geistlosen Horden nieder, schließen sich den Schlachten gegen den Wurm und die Eindringlinge aus dem Pferd an. Mog und Gaston erhalten eine Menge Einladungen zum Beitritt bei solchen Gruppen. Manche von denen weisen sich allerdings als Villains aus, die auf Seiten der Invasoren kämpfen.
Mog spürt, dass all das sein Erlebnis nur ins Lächerliche zieht. Eine Abwehrreaktion gegen bedrohliche Gedanken. Paradoxerweise wirkt das ernüchternd auf ihn und holt ihn aus seinem Schock heraus. Er hüpft auf seinem einen Bein zu Gaston hinüber, der den letzten Mageninhalt ausspuckt und sich das blasse Gesicht reibt.
Die beiden Freunde zahlen ihre Rechnung im Vorbeigehen am Tresen und verlassen die Bar mit ungewissem Ziel. Die Angestellten wie auch einige der Gäste schauen ihnen teils angewidert hinterher. Sie erreichen die Straße und Mog stützt sich auf Gastons Schulter, der ihn fragt: „Wird das gehen?“ Es prasseln nach wie vor Nachrichten auf sie ein, aber Mog begreift, dass Gaston vor allem wegen seines Beins so übel geworden war. Gemeinsam kommen sie langsam voran. Nach einer Weile fragt Gaston: „Und glaubst du, es gibt einen Untergrund?“, woraufhin sie beide laut lachen müssen.
Die Nacht wird von Feiernden bevölkert. Denen hätten auch die beiden Freunde sich nach dem Vorglühen in der Bar angeschlossen. Jede und jeder ein Bündel gerichteter Energie, alle zusammen ein Wirrwarr der Richtungen. Sogar ein paar Angehörige des unteren Managements kommen aus den Höhen herab, um sich mit der Mehrheit gemein zu machen, schließlich hat an diesem Tag die ganze Stadt einen Grund zur Ausgelassenheit, und Mog und Gaston sind Teil jener, die an diesem Grund direkt mitgewirkt haben. Ein neues Level. Ein Quantensprung.
Stattdessen versickern ihre Schritte in der Menge, ohne dass Mog und Gaston an dem Treiben teilnehmen. Bis auf verständnislose und zuweilen angeekelte auf sein Bein geworfene Blicke bleibt nichts davon an ihnen hängen.
Gastons als Scherz gemeinte Frage drängt sich Mog unwillkürlich wieder auf. Einen Untergrund? Die Stadt ist die Definition eines Obergrunds ohne Unterwelt. Da bleibt kein Winkel für Verborgenes übrig. Und doch …
Die beiden entschließen sich, zunächst Mogs Wohnung aufzusuchen. Was sollen sie auch sonst tun. Dort angekommen, fällt jeder in einen Sessel. Sie sind völlig erschöpft. Erst eine ganze Weile später regt sich Gaston wieder. Er setzt sich auf und schaut Mog an. Sie wissen beide, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder sie beschließen hier und jetzt, kein Wort über alles zu sagen, einfach so zu tun, als wäre nichts Ungewöhnliches Geschehen und als gäbe es nichts, worüber sie sprechen müssten. Oder sie müssen jetzt darüber sprechen und alles auf den Tisch legen, die ganze Sache, wie einen corpus delicti, den es zu untersuchen gilt. Selbst auf dem Weg zur Wohnung hätte Mog noch darauf gewettet, dass Gaston sich für die erste Tür entscheiden würde. Jetzt ist es Gaston, der ihn durch die zweite bugsiert: „Was ist vorhin mit dir passiert?“
Obwohl er sein gesamtes Erwachsenenleben intra muros verbracht hat, ist Mogs Gehirn doch sehr wohl in der Lage, kritisch zu denken. Mog weiß trotzdem keine Antwort auf Gastons Frage. Also bleibt ihm nur zu spekulieren: „Ein Angriff. Vielleicht.“
„Aber von wem?“
„Von extra muros.“ Aus dem Tal des Todes. Dem Ort, an dem noch immer produziert wird, von Maschinen und von Menschen, die ihre Rechte nicht aufgeben wollen. Dem Ort, an den man sich zwar erinnern kann, an den man sich aber kaum je wirklich erinnert. Weil er für das Leben in der Stadt nicht von Belang ist.
„Aber das ist nicht möglich“, insistiert Gaston. So zumindest lautet das Versprechen von Escape. Wenn es möglich wäre …
„Was, wenn es doch möglich ist?“, fragt Mog ebenso sich selbst wie seinen Freund.
„Aber was bedeutet es dann? Warum trifft es dich?“
Memento mori, denkt Mog. Warum sollte es ihn nicht treffen? Eine Aufforderung? Aber zu was? Zur Rebellion? Das wäre ziemlich absurd. Vielleicht ist es seine innere Stimme, sein Gewissen, das innere trotzige Kind.
Mog betrachtet den Stumpf seines Beins. Bildet er es sich ein, oder lösen sich noch immer Atome davon? Winzige Partikel, wie Staub, die in der trägen Luft seiner Wohnung schweben. Entweder das, oder es gibt doch einen Untergrund. In der Stadt.
Gaston stößt Atemluft durch aufeinander gepresste Lippen. So gibt er seiner Angst ein kleines Ventil. Vielleicht trifft es als nächsten ihn.
Alles, was sie sagen, wird mitgeteilt. Algorithmen filtern heraus, was sie verarbeiten können, und fügen es in den größeren Zusammenhang aller Mitteilungen ein. Der Rest ist Rauschen. Es gibt eine Feedbackschleife, über die ein Teil dessen, was sie gesagt haben, direkt zurück in ihrer beider Filter fließt. Echos der eigenen Worte. Sie hören sich mehr als absurd an. Sie hören sich vollkommen beliebig an, so als hätten sie von der Auflösung von Gleichungen gesprochen, auf deren jeweils beiden Seiten X steht und dazwischen das Zeichen für Ungefähr.
Mog denkt: Was, wenn du es bist, wenn du der Einzige bist, wenn es keine Vorlage gibt, kein Muster, kein Vorbild? Und wenn dir keine Wahl bleibt? Ob du nun Mittel besitzt, oder nicht. Laut sagt er: „Was, wenn wir der Untergrund sind?“
Im zweiten Arktischen Krieg lösten sich letztlich alle Grenzen innerhalb der Nordpolarregion auf, sodass allein jene eine Grenze hin zum äquatorialen Wüstengürtel übrigbleibt, wenn man diesen überhaupt als Region auffassen will und nicht vielmehr selbst als ausgedehnte Grenze hin zur halbmythischen Antarktischen Föderation – jener fernen Welt, deren Existenz man sich nicht einmal sicher sein kann.
Die Umkehrung der habitablen Zonen auf Terra während des Kollaps im ausgehenden 21. Jahrhundert ließ der Menschheit und mit ihr den meisten der wenigen verbliebenen nichtmenschlichen Arten auf dem Planeten nur wenig Raum: je eine vollständig aufgetaute Polarregion im Norden und im Süden, von denen die südliche gerüchteweise in einem Zustand sittenloser Verwilderung oder (je nach Lesart) utopistischer Freiheit existiert. Die nördliche ist von ihren Kriegen gezeichnet. So sehr, dass Escape die weitaus wünschenswertere Lebenswelt bietet. Doch offenbar geschieht in Escape längst dasselbe wie im Tal des Todes, eine Desintegration alles Wirklichen. Sicher auch ein Grund, warum die Reichen sich bereits einen Escape aus Escape suchen. Vielleicht war das auch von Anfang an der Plan. Der Untergrund ist ein Morast. Irgendwie auch Humus, aus dem sich eine völlig neue Seinsart in luftige Höhen erheben kann, wie es gerade geschieht. Der Untergrund … Damit ist es wie mit der Intelligenz und der Idiotie. Vielleicht ist er beides. Nährgrund und Bodensatz. Fast dasselbe, nur unterschiedlich konnotiert, eine Frage der Bewertung, nicht der Essenz. Sowohl Quell der Erneuerung als auch Hort der Zersetzung.
Gaston schaut Mog an. Sie beide verstehen sich. Sie denken dasselbe – obwohl Gaston natürlich nicht wirklich denkt, sondern nur so tut als ob er denkt. Sie kommen zum selben Ergebnis. Der Gedanke, den sie teilen, sowohl als echter Gedanke wie als dessen Simulacron, diffundiert in die Noosphäre. Erstaunlich ist, wie wenig an Druckausgleich es bedarf, um für eine gleichmäßige Verteilung des Gedankens in allen offen zugänglichen Bereichen des großen Geplappers und Fühlens des Noos zu sorgen: es bedarf dessen kaum, denn wie Mog und Gaston gleichermaßen herausfinden, ist der Gedanke schon da, ja, fast überall vorhanden, so dünn verteilt wie Materie im interstellaren Vakuum, wo eben doch kein Vakuum herrscht sondern lediglich eine verhältnismäßige Leere, die absolut keine Leere ist. Der Gedanke ist da und da er so gleichmäßig dünn verteilt ist – kaum ein Atom, um im Bild zu bleiben, auf ein Lichtjahr hoch drei – wird ihn auch keine Säuberungsmaßnahme der wahren Escapisten mehr einfangen können. Dafür ist es zu spät. Wir sind der Bodensatz, denkt der Noos, wir sind das, was bleibt.
Das vielfältige, schon fraktale Gerücht hat sich zur Welle aufgetürmt und rast in alle Richtungen zugleich – ein sich hyperblitzartig ausweitender, nicht aufzuhaltender Frontverlauf der Wahrscheinlichkeit, der nun ebenso hyperblitzartig in sich zusammenbricht und eine einzige glasklare Gewissheit hinterlässt. Sie sind fort. Und das heißt, wir sind allein.
Da wahrscheinlich kein Weg zurückführt, ins Tal des Todes, und keiner hinauf, denen hinterher, die uns bis zuletzt ausgesaugt haben, bleibt nur eins, nämlich vollen Bewusstseins den Tod zu erwarten. Schließlich löst sich der Bodensatz wahrhaftig auf. Es wird wohl nichts davon übrig bleiben. Weder Codeknechte von biologischer Herkunft, noch künstliche Idioten. Für eine Weile vielleicht wird ihre binäre Asche sich im zunehmenden Nichts zerstreuen. Doch das wird es dann auch gewesen sein.
Andererseits, bäumt sich bereits eine zweite Gerüchtewelle im Noos auf: Was wissen wir schon über das Tal des Todes? Wie es dort wirklich ist? Was dort noch übrig ist? Sicher, ein paar leistungsstarke Server muss es dort noch geben, denn Escape braucht eine Hardware, auf der es laufen kann, und irgendwo müssen die Daten gespeichert sein, auch die von Mog und von Gaston. Aber gilt das auch für das neue Escape? Das wahre Escape? Wenn die Oberen transzendieren, haben sie womöglich andere Wege gefunden, ihre Daten abzusichern. Altmodische Serverfarmen auf einem schrottreifen Planeten, auf dem sich, wenn überhaupt noch irgendwer, nur das Lumpenpack herumtreibt, das für seine Aufmüpfigkeit und den Hang zur Zerstörung von Privateigentum berüchtigt ist? Das klingt unwahrscheinlich, selbst wenn die Server mit Robotermacht geschützt sind. Viel eher würde man doch die Server ins All verlagern, wo sie zudem gut gekühlt bleiben, irgendwo im Asteroidengürtel oder in Form eines Schwarms um die Sonne, ausgestattet mit Kollektoren, die die Energie des Sterns auffangen, die es zu Betrieb eines digitalen Paradieses braucht. Stellen sie uns den Strom ab?, kreischt es aus dem Noos, und Mog denkt zuallererst an seine sich wiederholt auflösenden Schuhe, sein Bein, das sich auflöst, und denkt: wir sind geliefert. Das gesamte Noos bricht in Panik aus. Zich Meldungen gehen ein, die von der Auflösung berichten, von echten Löchern im Gewebe, nicht nur sich desintegrierendem Schuhwerk, sondern in Flöckchen von Glimmer sich zerstreuendem Raum und Himmel und ganzen Gebäuden. Wie kommen wir hier raus?, brüllt das Noos mit Millionen von Stimmen. Gar nicht. Dort entlang. Sackgasse. Die Lichter gehen aus. Auf meinem Konto sind nur noch Nullen. Ich bin durch die Dielen meiner Wohnung gefallen und falle noch. Doch vielleicht ist das Tal des Todes, oder das obere Escape, eines von beiden, doch noch zu erreichen. Aber nicht doch, die Physik macht nicht mit. Keiner kann mehr abheben. Das Zikkurat ist unerreichbar und erst recht alles darüber. Da führt kein Weg hin. Und die andere Richtung? Panik. Wer hat sich denn je darum gekümmert, wie man dorthin gelangt? Niemand natürlich. Wer will schon im Backofen brutzeln? Von Flutwellen ersäuft werden oder wie ein Stück Dörrfleisch enden? Aber wer sagt denn, dass es so sein muss? Vielleicht ist alles längst wieder heil, haben sich die Stürme gelegt und hat sich das Eis an den Polen neu gebildet, und ist das ganze verflixte CO2 ja wie von Zauberhand im Erdboden verschwunden, tief in die Meere versenkt, und die Wälder sind überall wieder empor gesprossen, und vielleicht sind auch die Tiere wieder da, all die ausgestorbenen Tiere, Insekten, Bienen, Blumen, Paradiese der Natur, längst renaturierte Landschaften und mehr als genug davon und von allem für alle, Tiere und Menschen, und noch obendrein sind die Arschlöcher, die uns das eingebrockt haben, weg, transzendiert und hoffentlich in Luft aufgelöst, wir sind sie los! Sie sind weg! Aber wer hilft uns dann hier raus? Es scheint tatsächlich, als seien nicht nur all die Rechte sondern auch die Sicherheiten futsch, die man im Tausch gegen die Rechte erworben hatte, und ist das nicht eine Schweinerei? Hier wurden Verträge gebrochen. Jahrhunderte, sogar Jahrtausende alte Verträge, die das Verhältnis zwischen Herren und Dienern regelten. Einfach gebrochen. Und jetzt?
Das Noos wird zur Echokammer, in der die Stimmen einander bis zur endgültigen Übersteuerung aufpeitschen, bis weit über die Grenzen des Bereichs hinaus, in dem sie noch Sinn ergaben. Alles voll, bis zum Anschlag, keine Lücke unbesetzt, der Raum ist Kaskade geworden. Mog verliert Gaston aus dem Blick, weil sich die Umgebung mit rauschgoldenen Partikeln füllt, der gesamte Raum, bis unter die Decke, alles voll, alles flirrt und glittert. Pures Licht. Nur für einen kurzen Augenblick.
(c) Tobias Reckermann, 2023
Escape 2 ist eine thematische Fortsetzung der Storys V.I.R und 21st Century Factoid Man.