Spirale

Die Nadel hob ab. Der Teller drehte sich weiter. Keine Endabschaltung. Eine aufgeladene Stille hing in der Luft, in der alles möglich schien – und nichts geschah. Mog fühlte sich davon unter Druck gesetzt. In Erwartung und zum Abwarten gezwungen, als ob da vielleicht doch noch etwas käme, obwohl er wusste, dass dem nicht so sein würde. Was sollte da kommen? Er hätte von der Couch aufstehen und das Gerät abstellen können. Aber was dann? Es schien leichter zu sein, einfach nur dazusitzen und auf das kaum hörbare Brummen zu lauschen, das die Boxen ausgaben.

Es lockte Gedanken hervor, die sich im dunklen Zimmer ausdehnten und herumschwebten, bis der Raum von ihnen angefüllt war. Etwas tun, nichts tun – dazwischen war Mog gefangen wie die Fliege hinter der Glasscheibe, an der sie nach einem Ausgang ins Freie sucht. Er schaute ins Leere. Da fiel ihm etwas auf dem Regalbrett über dem Plattenteller auf, das er nicht dort platziert hatte. Er stand wie von der Sprungfeder getrieben auf. Es war eine Befreiung.

Das Ding war absonderlich. Es lag nicht da und stand auch nicht. Er nahm es in die Hand. Es passte hinein. Ansonsten war es kaum definierbar, weder leicht noch schwer, nicht rund und nicht eckig, nicht wirklich glatt und doch nicht rau. Es mochte aus hartem Holz sein, oder aus Metall. Es besaß keine richtige Form.

Klang setzte ein. Es war nicht die Musik von zuvor und doch drehte sich nicht nur der Teller, sondern saß auch die Nadel wieder am Rand der Scheibe und kreiste Umdrehung für Umdrehung der Mitte zu. Ein Ton dehnte sich aus und erfüllte den Raum.

Das Objekt in Mogs Hand, die Schallplatte auf dem Teller und Mogs Verstand bildeten … nun, sein labyrinthisch einwärts gedrehtes Gehirn würgte jede Information hinunter, bis sie irgendwo im tiefen Innern in ein schwarzes Loch stürzte. Nie hätte man voraussagen können, was seinem nach Außen hin so gründlich verstellten Wesen einmal entschlüpfen sollte. Es würde gewisslich nicht als etwas wiederzuerkennen sein, das zuvor durch jene Pforten der Schlitze und Trichter hineingegangen war, die ihm als Augen und Ohren den vagen Anschein eines Mitmenschen verliehen.

Das Ding und die Musik gehörten genau der Art von Vorfällen an, von denen sich erschrecken zu lassen, oder über die sich aufzuregen Mog längst hinter sich hatte. Allein einen Schauder verursachten sie ihm doch immer noch. Die Art von Erschaudern, die ihn wissen ließ, dass das Leben Überraschungen bereithielt. Eine Verunsicherung, die ihn jeden Schritt mit Sorgfalt zu setzen veranlasste.

Das Objekt schimmerte wie aus sich selbst heraus. Seine Oberfläche wäre kaum fähig gewesen, etwas zu reflektieren. Es dehnte sich aus wie Mogs Gedankenraum, und umgab ihn, während es doch nach wie vor auf seiner Handfläche ruhte. Von Musik begleitet, die keine wirkliche Musik war, sondern vielmehr ein Sphärenklang, dem eine kaum hörbare aber doch spürbare Basslinie unterlag, sah Mog sich in eine Straße unter nächtlichem Himmel versetzt.

Die Straße kannte Mog gut. Er war sie in den vergangenen Wochen immer wieder auf und ab gegangen, hatte sie auf ihrer gesamten Länge erkundet. Auch hatte er sie von allen Seiten her betreten. Einmal hatten Stufen von einer stählernen Überführung zu ihr hinab geführt, ein anderes Mal tauchte Mog aus einem U-Bahnschacht auf und fand sich unversehens auf ihr wieder. Dann stieß er einmal auf sie, als er eine andere Straße entlangging, die nun diese kreuzte, als ob sie dies schon eh und je getan hätte. Die Straße selbst schien sich zu bewegen. Mit ihr bewegte Mog sich selbst. Dabei war ihm immer so, als habe er nicht wirklich jenen Ort verlassen, an dem er sich zuvor befunden hatte, sondern nur gleichsam einen seiner zwei Füße auf das Pflaster der Straße gesetzt, sodass er sich recht betrachtet an zwei Orten zugleich befand. Dem folgend war auch nun zumindest ein Teil von ihm weiterhin in seinem Wohnzimmer und es verwunderte Mog darum nicht allzu sehr, dass er die Musik noch hörte. Die Wandlung des Objekts von einem Gegenstand hin zu einer Umgebung ließ ihn schon weitaus mehr aufhorchen. Das war neu für ihn. Es war vorher noch nie geschehen.

Die Straße selbst schimmerte ölig. Schillernde Farbtöne spielten auf Hausfassaden, flossen aus den Laternen und von den Sternen des Nachthimmels wie Nordlicht herab. Aus Fenstern leuchtete es gelb und orange. Der Straßenbelag – sicherlich kein Teer oder Asphalt – glitzerte zuckrig und spiegelte die Farben. Hinter all dem vermutete Mog verborgene Schlitze und Trichter, durch die die Straße sich informierte, denn gewiss sah und hörte sie alles, was auf ihr vorging, jeden Schritt, den er auf ihr tat. Sie trug ihre Maskerade wie ein echtes Gesicht, doch er fühlte ihre Blicke unter der Haut als tastende Finger auf seinem Herzen. Er fühlte sich ebenso betastet wie er das Objekt in seiner Hand betastete, ganz so, als sei dieses ein Teil von ihm selbst. So als sei es sein Herz.

Zu diesem Zeitpunkt wurde Mog bewusst, dass die Musik, die er hörte, wenn auch sphärisch, so doch gewiss in keiner Weise unaufdringlich nur im Hintergrund spielte. Sie drang durch jede Faser seines Körpers. Sie schüttelte die Knochen in ihm durch und ließ alles vibrieren. Es fiel ihm leicht, sich einen Schlagzeuger vorzustellen, der gewaltig auf eine Trommel einschlug, und sich selbst in dieser Trommel. Allein deshalb war ihm das wohl zuvor nicht aufgefallen. Er war mittendrin. Die Straße betastete ihn nicht nur von oben bis unten, sie redete auch mit donnernder Stimme auf ihn ein. Es schien ihm gut möglich, dass das schillernde Farbenspiel eine Reaktion seines Gehirns war. Seines Gehirns, das die Worte der Straße nicht verstand, und nur mit Phantomfarben auf sie zu antworten wusste.

Sein Herz klang wider. Es trommelte wild. Die Farben verzogen ihm die Synapsen. Der Raum und die Zeit rieben aneinander. Das erzeugte wiederum Schwingungen, die wie heftige Winde durch Mogs Gerippe fegten.

Im Gegensatz zu diesem Getose war Mogs Inneres still. Viel zu still. Absolut still. Kein Herzschlag war zu hören, kein Atemgeräusch. Vielleicht hatte die Straße ihm jede Eigenfrequenz ausgetrieben und war Mog nun nur noch Resonanzkörper der ihren. Der Gedanke erschien kaum schrecklicher, als so vieles andere.

Was das mit ihm und der Straße war, wusste Mog nicht. Er erinnerte sich nicht an sie, weder aus einem Traum, noch aus einem Erlebnis, doch er glaubte, es müsse sich bei ihr um den Ort eines Ereignisses aus seiner Vergangenheit handeln, der nun in sein Bewusstsein drängte. Aber warum? Womöglich war hier etwas geschehen, das unerledigt geblieben war? Nie traf er jemanden auf der Straße an. Immer war er allein auf ihr. Obwohl die Fenster leuchteten, hatte Mog auch nicht den Eindruck, als sei jemand in den Häusern anwesend. Nein, die Fenster selbst waren die Augen, die ihn beobachteten, und das Licht auf ihnen mochte sehr wohl auch von einer ungesehenen Sonne oder fernen Sternen eingefangen sein, wie durch ein Brennglas konzentriert und von einem Spiegel zurückgeworfen.

Niemand war dort, außer ihm selbst, und wenn er die Straße verließ, fühlte er sich als ließe er sich selbst dort zurück. Jedes Mal. Hinaus wie herein ging es ganz plötzlich. Eben noch war er dort, dann wieder da, wo er zuvor gewesen war, und dazwischen fehlte der Übergang.

Wieder in seinem Zimmer vor dem Drehteller und mit dem Objekt in seiner Hand, schwappte ihm das Dröhnen im Schädel nach. Die Nadel lief erneut in der letzten Umdrehung der Rille, endlos und ohne mehr als nur ein Knacken hervorzurufen. Mog legte das Objekt zurück auf das Brett an der Wand, trat zurück bis an die Couch und setzte sich. Eine große Müdigkeit kam über ihn und er gab ihr nach.

In der Nacht kam jemand zu ihm ins Zimmer. Eine Frau. Mog dachte, sie setze dazu an, ihre Kleidung abzulegen. Doch dann erkannte er, dass ihre Fingerspitzen sich nicht am Revers eines Mantels sondern an der Haut über ihrem Brustbein eingruben. Sie öffnete sich von Kopf bis Fuß und trat aus sich selbst heraus einen Schritt auf ihn zu. Dann wiederholte sie den Vorgang, öffnete sich erneut, trat heraus aus ihrem Portal. Dabei kam sie ihm näher. Ein drittes Mal vollzog sie die Häutung, und ein viertes. All die Gehäuse blieben hinter ihr in Mogs Zimmer stehen wie eine Abfolge in kurzen Abständen aufgenommener Fotografien.

Der Moment, in dem sie ihn schließlich hätte erreichen müssen, kam nie.

Es war nicht so als hätte Mog geschlafen, und somit folgte auch kein Erwachen, vielmehr ein graduell zunehmendes Gewahrsein verschiedener Dinge. Das durch sein südostwärts ausgerichtetes Fenster schräg einfallende Morgenlicht, und wie es die elektrische Beleuchtung im Zimmer ausblendete. Das Objekt lag nicht länger auf dem Brett an der Wand. Die noch immer auf der sich drehenden Scheibe sitzende Nadel. Das seltsam neue Gefühl, sich an zwei Orten zugleich zu befinden, das er bislang nur von seinen Aufenthalten auf der Straße her kannte. Das andere Gefühl, ihm sei etwas entgangen, während er bewegungslos dagesessen hatte, wie er es noch immer tat. Die Erkenntnis, sich nicht bewegen zu können, so als ob nur seine Sinne wach wären, nicht aber sein Körper, der womöglich schlief, wenn er nicht gelähmt war, oder von ihm auf unerfindliche Weise getrennt. Er meinte, die Schritte der Frau auf der Straße hören zu können.

Sie war hier bei ihm gewesen, nun war sie dort, wo nie jemand außer ihm war, und er war hier und dort zugleich. Alles stand kopf. Vielleicht war sie die Herrin der Straße. War schon ihr Eindringen in die Privatsphäre seines Zimmers bedenklich, so bestürzte Mog die Vorstellung doch noch viel mehr, wie sie dort ging, wo er nie jemandem begegnet war, und dies während auch er sich zwar dort aufhielt, aber von dort nichts sah. Es war, als sei sie gleichsam in seinem Hinterkopf, jenem Teil seiner selbst, von dem er zwar wusste, auf den er aber niemals Zugriff bekommen würde.

Tageslicht flatterte herein, so als ginge der Tag ganze Kapitel seines Verlaufs im Zeitraffer durch. An Mogs Zustand änderte sich nichts. Er ließ nur den Blick durch sein Zimmer wandern, hörte sie unterdessen hinter dessen Kulisse herumgehen, und fragte sich lang und ernst, ob er ihr Erscheinen hier bei ihm denn überhaupt hatte mitbekommen sollen. Wenn er geschlafen hätte, anstatt nur apathisch dazusitzen, würde er sie nicht bemerkt haben, also auch nichts von ihr wissen.

Was wusste Mog eigentlich von ihr? Nicht sehr viel. Ihm fiel beim besten Willen kein Gesicht zu ihr ein. War sie alt oder jung? Irgendetwas dazwischen? Auch dessen war er sich gar nicht sicher. War sie hübsch gewesen? Und wie hatte ihre Haltung auf ihn gewirkt, als sie auf ihn zugekommen war? Etwa bedrohlich? Nicht, dass er wusste. Je länger er versuchte, der Erinnerung bestimmte Eigenschaften abzuringen, desto mehr zerrann ihm die letzte Gewissheit. Gewiss war sie ihm weiblich erschienen, aber war sie es wirklich? Und wieso hatte er geglaubt, sie sei menschlich? Zuletzt war sie nicht mehr als ein unbestimmbares Objekt. Ohne Form und Beschaffenheit. Ohne Stellung im Raum. Dann verhallten auch ihre Schritte, oder vielmehr wurden sie eins mit dem sich langsam herausstellenden Rhythmus der von vorn begonnenen Musik. Als die Sonne gesunken war, lief die Nadel erneut durch die Rille der Scheibe. Mog spürte, dass er sich nun hätte rühren können. Der Körper wartete nur auf ein Signal. Doch dazu, es ihm zu geben, rang Mog sich nicht durch. Sicher hätte die leiseste Regung ihn doch nur erneut zurück auf die Straße geführt.

(c) T. Reckermann, 2021

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain