Es gibt einen Ort in meinen Träumen, der nur durch den schwärzesten Korridor zu erreichen ist. Obwohl mich auf diesem Gang jedes Mal Furcht überkommt, die Furcht, etwas könne aus der Finsternis nach mir greifen oder unermessliche Tiefe zu Seiten meiner Schritte könne mich erfassen und hinabziehen, gebe ich dem Sog des Orts doch immer nach, betrete den Korridor – nichts ergreift mich oder zieht an mir – und gelange dorthin, wo ein hohes Fenster das kalte Licht von Nebel hereinlässt. Nur Dunst ist dort draußen und schwache Schemen, nichts Festes, keine echte Form.
Tatsächlich ist das, was durch das Fenster zu sehen ist, nicht weniger furchterregend als der schwarze Korridor und doch zieht es mich dorthin. Und furchterregender als beides, Fenster und Korridor zusammen, ist, dass ich immer nach einem Ausblick in den Nebel an einer Stelle meiner Wohnung aus meinem Somnambulismus erwache, an der kein Fenster, kein Ausblick, auch kein dunkler Korridor liegt. Ich stehe dort nur vor einer Wand und fühle, als ob sich vor mir doch eine Leere auftut, die ich nur nicht sehen kann, als ob ein einziger weiterer schlafwandelnder Schritt mich über eine Schwelle getragen haben würde, als ob es danach kein Zurück mehr hätte geben können, als ob ich durch mein Erwachen die Gelegenheit zu wahrer Erkenntnis dessen, was in dem Nebel liegt, vertan hätte. Und immer fühle ich mich an dieser Stelle vollkommen allein, fühle, als ob der schwarze Korridor doch bereits hinter mir läge und mich von der Welt des Tages und der Menschen für ewig trennen muss.
Auf dieser Seite, in der Welt der Nächte und Traumgestalten, liegt Narkosa, die Stadt der Schlafenden. Die Stadt im Nebel. Ich weiß, dass sie da ist. Im weiß es im Traum, auch wenn ich sie nicht sehen kann. Und auf der Seite meiner Welt sehne ich mich dorthin, obwohl sie keine Geborgenheit verspricht, sondern nur eine Wahrheit, die ich im Wachsein nicht finden kann. Eine schreckliche Wahrheit, und doch …
Zuerst die Wahrheit, dass dort jener Korridor ist, und wenn er sich auch nicht zeigt, und dahinter die Stelle vor dem Fenster und der nebelverhangene Ort dahinter. Sie sind dort und von dem Hier nur durch die Mauer des Schlafs getrennt. Diese Mauer lässt sich so leicht durchdringen. So leicht, dass ich wegen meines Schlafwandelns nicht mehr sagen kann, auf welcher Seite ich mich wirklich befinde. Ob diese Seite der Traum ist oder jene das Hier und das Jetzt und meine Sehnsucht mich nicht schon an ihr Ziel geführt hat und doch nicht erlischt, nur weil ich den letzten Schritt nicht vollbringen kann? Es bleibt nur ein Mittel, es herauszufinden: die Schlafdroge. Morphium.
Eine einzige Injektion und alles ist anders, denn nach meinem furchtbaren Gang durch den schwarzen Korridor gelange ich nicht nur vor das hohe Fenster mit dem Ausblick auf den Nebel, sondern durchdringe ich das unsichtbare Glas, die letzte Grenze, als wäre es nicht vorhanden, und habe das Grauland betreten. Ich bin dort, wo die blassen Schemen und der Nebel und mein letztes Ziel, alle verschmolzen in eins, mich umfangen.
Sie liegen dort, wie die Steine eines Totenfelds, und regen sich nicht. Nur dem Gehör folgend gehe ich weiter in die Welt des Graus und dort hinaus heulen Wölfe einen unsichtbaren Mond an. Doch kann es sein, dass ich den schwarzen Korridor in Wahrheit nicht verlassen kann, denn die Furcht ist dieselbe, so als müsste ich mit dem nächsten Schritt auf meinen eigenen Grabstein stoßen. Als müsste ich tot sein in jener Welt und in dieser gestrandet und in der Stadt, die im Nebel vor mir flieht und belebt ist nur von Schlafenden und still daliegenden Steinen. Wenn ich es bin, was mag dann mit meinem Körper geschehen sein, dort drüben, von wo ich herkomme? Ich finde ganz gewiss den Weg zurück nicht mehr, durch das Glas und dorthin, wo kein Korridor liegt und nur jene nackte Wand in meinem Zuhause. Was ich getan habe, lässt sich nicht umkehren. Ich kann nicht umkehren. Ich bin jetzt ein Teil dieser Stadt, die immer schon meine Stadt war. Ich lebe unter den Wölfen, den Steinen, dem Nebel. Ich bin ein Einwohner von Narkosa.
(C) Tobias Reckermann, 2016