Darmstadt im April. Der diesjährige Vormärz ist bereits beendet. Die Sonne scheint. Der Herrngarten füllt sich mit hellem Grün und die Biergartenlust macht sich breit. Der neueste Knorz auf der Rückseite vom Tagblatt, Fahrradfahrer, Kinderwagen auf Rennchassis, Eisschlecken, die Lilien sind auf dem Vormarsch: Das Leben freut sich und ich halte nach bekannten Gesichtern Ausschau. Tatsächlich kann man sich sicher sein, dass einem auf dem Riegerplatz oder unterm Lui oder wo auch sonst in der idyllischen Großkleinstadt immer Bekannte über den Weg laufen, selbst wenn man es nicht wollte.
So weit ich sagen kann, sind sich Woyzeck und der Datterich nie begegnet, was doch seltsam ist, wo ich in Darmstadt beiden andauernd über den Weg laufe. Der eine schreit und stöhnt, weil sein Leben den Darmbach hinab rinnt, und der andere hat hinter seiner Alkoholfahne einfach eine große Klappe.
Eigentlich ist Woyzeck ja der ältere der beiden, allerdings, durch seine späte Uraufführung 1913, auch wieder nicht. In Bühnenjahren schlägt ihn Datterich um Jahrzehnte. Dafür wird Woyzeck heute weit öfter aufgeführt. Nehme mer mol an, im Jahre 13 – in der Alexanderstraße steht noch immer eine Infanteriekaserne und schlummert sich auf den Ersten Weltkrieg ein – hört Datterich, schon 72 Jahre Bühnenerfahrung auf dem Buckel, von dem störrisch tragischen Woyzeck. Sein erster „trockener“ Kommentar dazu: „Wer lässt sisch dann aach uffe Erbsediät ei?“ (War das jetzt echtes Heiner oder nur meine allhessische Version davon?) Bestimmt hätte Datterich noch sehr viel mehr zu sagen. Ich stelle mir vor, dass er mit seinem Breitmaul über Woyzeck herwalzt wie eine Artilleriegranate.
Datterich, der Hans Suff in allen Gassen, dagegen ist Woyzeck eher so eine Art Held im Wasserglas. Die Rebellion ist schon sichtbar, bricht sich aber an der Klippe der Eifersucht. Und das war es auch schon mit dem großen Aufbegehren. Seine Freundin hat er erstochen, noch nicht mal den Tambourmajor, mit dem sie ihn betrogen hat. Was für ein Tratsch daraufhin in Darmstadts Kneipen und in Traase, hinnerm Wald.
Datterich als Vormärz zu bezeichnen wäre schon ein starkes Stück, dabei ist die Zeit dieselbe. Das fürstliche Darmstadt in seiner bürgerlichen Verschlafenheit (ist das heute anders?) wartet nur darauf von den Wilden durchgeschüttelt zu werden, aber Büchner geht dafür ins Exil, so wie alle anderen Großen. Er stirbt, bevor sein Woyzeckfragment zum ausgewachsenen Drama gedeihen kann, da hat Niebergall schon den längeren Atem.
Darmstadt, könnte man meinen, hat die Revolution abgeschmettert wie einen tätlichen Angriff hinterm Heinerzelt: mit einem Bierkrug. Natürlich überlebt Datterich, die Saufnase, den armen Woyzeck. Man könnte sagen: Die Bohème schlägt sich durch.
Ein stadtbekannter Datterologe schreibt, Datterich sei eigentlich ein Punk. Punks laufen nicht Amok, sie sitzen um den Lui herum und trinken Bier, wenn man sie lässt. Für Chaostage ist Darmstadt nicht die richtige Stadt. Amok laufen die anderen, die gerne angepasst wären, es aber nicht schaffen und deshalb explodieren müssen. Deshalb läuft man auch in Schulen oder an der Börse Amok und nicht im Biergarten.
(Oder doch? Vergessen wir nicht, dass Datterich am Ende des Stücks noch seinen Mittelfinger streckt und sich aus der schwankhaften Posse heraus in das Finale einer Tragödie bugsiert!)
Es gibt auch andere Tage, an denen man niemandem begegnet, den man kennt, auch bei schönem Wetter im Herrngarten. Datterich kommt vielleicht vom Eingang an der Martinskirche und Woyzeck, zur gleichen Zeit, aus Richtung Schloss. Sie könnten am Ententeich aufeinandertreffen, laufen stattdessen aber beide in Uhrzeigerrichtung darum herum – Woyzeck verzweifelnd, Datterich schwadronierend – immer mit der Miniinsel und den darauf stehenden Bäumen zwischen sich. Die Lokalposse erkennt die Revolution nicht und der Vormärz ignoriert den Darmstädter Schmäh. Es wäre gut möglich, dass unsere beiden Lokalsuperhelden, diese Janusköpfe, einander gar nicht wahrnehmen können, dass sie trotz aller Synchronizität in verschiedenen Sphären leben. Die Bretter, die ihre Welten bedeuten, sind letztlich doch aus ganz unterschiedlichem Holz. Wohl weil das eine sich vor Lachen biegt und das andere bricht.
(C) Tobias Reckermann, 2015