Die Schwerkraft hat sie verlassen, schwebend in einer schwarzen Tiefe. Ein traumartiges Gefühl, bei dem ihre Haut am ganzen Körper knistert wie von darunter kriechenden Gedanken, die nicht ihre eigenen sind.
Jeder für sich vollzieht den letzten Abschnitt des Weges nach, von dem Moment an, an dem sie auf der grasbestandenen Ebene jenes Dickicht ausmachen, das allein aus dem Meer rollender Hügel unter der brennenden Sonne aufragt und Schatten verspricht. Die Entscheidung, dorthin zu gehen, die müden Schritte abwechselnd hinter dem jeweils anderen her, bis zu dem letzten Anstieg, der sie an den Rand des Dickichts führt. So einsam liegt es da, so unübersehbar, dass hier Zuflucht zu suchen sich so blöde ausnimmt, wie sich auf dem freien Platz vor einem Gericht zu präsentieren. Doch nirgends sonst gibt es Deckung, nicht vor der Sonne und nicht vor Blicken, wenn sie nicht reglos im hohen Steppengras liegen wollen und nur darauf warten, dass man sie einholt.
Das Gestrüpp hängt schwer auf den paar Bäumen, ringt sie nieder mit seinen Dornen an dürren Ästen und durstenden Blättern und düster schweben Schatten darin. Die Gestalt ist geduckt, in sich gekrümmt, schwermütig, als habe alle Schwere der weiten Ebene sich hierhin vor dem ausgreifenden Grün zusammengerafft, wie ein Haufen von Kehricht, letzte Reste des uranfänglichen Chaos der Welt.
Die Schatten darin sind bei genauem Hinsehen mehr als sie von Weitem scheinen, nicht aus der Überlagerung von Zweigen und Laub aufgehäuft, sondern halb verborgene Fensterlöcher und die Tür eines niedrigen Gebäudes aus totem, von Hitze bleichem Holz. Eine Hütte liegt unter dem Dickicht, wie niedergedrückt. Die Öffnungen gähnen schwarz, so schwarz, dass das Dunkel hervorzuquellen scheint in das grelle Licht. Ein Blick darauf ist wie das Eintauchen in eine andere, zweite Ebene der Existenz, wie der Anblick dessen, was sich unter lange daliegenden Steinen verbirgt. Sie können nicht zurück und nicht weiter hinaus. Sie schauen einander in die Augen. Sie von der Sonne rot im Gesicht und schwach, er schweißdurchnässt. Er fasst sie bei der Hand, führt sie in den Schatten und dessen trockene Kühle. Ein Blick über die Schulter bestärkt seinen Entschluss. Besser, hier zu warten, bis es Nacht wird, als da draußen zu verdorren.
In der Schwerelosigkeit und von den kriechenden Gedanken unter der Haut überreizt fängt sie zuerst an, ihn verantwortlich zu machen. Er hat sie hineingeführt, es ist also seine Schuld. Obwohl sie keine Schwere fühlt, ist ihr doch so als falle sie, endlos, falle in die Weite hinein, die sich so kalt wie der Kosmos um sie legt, so unausweichlich wie das All. Schreien würde sie, schreit vielleicht, ohne sich dessen vergewissern zu können, und er ist nicht bei ihr.
Er verflucht sie. Sie ist der Grund für ihre Flucht, also ist es ihre Schuld, dass sie die Hütte betreten haben. Jetzt ist sie fort, ist nicht bei ihm, er ist allein in der Leere, ist angefüllt mit Gedanken, die wie Dornen unter seiner Haut sitzen.
Wie sie die Hütte unter dem Dickicht durch die Türöffnung betreten und die Kühle ist so sehr im Kontrast zu der Hitze, dass sie zu zittern anfängt und er seine Arme um sie legt. Ihr soll bloß nichts geschehen. Ihm ja, wenn es sein muss, aber nicht ihr, die er liebt. Weil sie ihn liebt. Weil sie sich lieben und deshalb egal ist, was geschieht, solange ihr nichts geschieht.
Ihm nichts geschieht, denn ohne ihn wäre sie nicht nur schutzlos, sondern ganz allein in einer furchtbaren Welt. Ihm soll nichts zustoßen, aber er soll sie beschützen. Es ist gut, dass er seine Arme um sie legt, sonst wäre sie haltlos in dieser Schwärze. Sie halten einander aufrecht. Es ist so dunkel, dass sich der Raum grenzenlos anzufühlen beginnt. Das Dunkel ist so tief. So leer. Sie spürt seine Arme nicht mehr, verliert seine Nähe, seinen Schutz, und er verliert sie aus seinen Armen. Das Bewusstsein beider setzt aus. Es findet nichts, woran es sich halten kann, keinen Grund, keine Dimension, kein Gegenüber, keinen zweiter Herzschlag, kein Gesicht, keine Stimme, keinen Laut.
Es ist so finster, bis auf ein hell klingendes Zittern in dem was sie beide hält. Nur durch einen Hauch voneinander getrennt, so nahe beieinander, dass sie sich berühren könnten, wenn sie sich rühren könnten, ohne zu wissen, dass der andere so nahe ist. Etwas Beiniges, Armiges, stelzend Augendes, Bitteres, böse Wisperndes, Flüsterndes, kalt Atmendes, die Saiten ihres Netzes Schlagendes tastet sich über die Stricke ihrer Fesseln heran, befühlt sie beide mit feuchten, wimpernhaften Gliedern und kratzt mit Nadelfingern an ihren Gesichtern. Es öffnet ihre Augen.
Sie könnte nicht sagen, ob sie sieht oder spürt, dass sich rote Stiefel in ihr Sichtfeld bohren. Nur die Stiefel, stachelscharf, ohne eine Gestalt, ohne Form. Er sieht den Teufel in den blutroten Stiefeln, der die schwarzen Hörner bleckt und Hände kältester Nacht mit Klirren aneinander schlägt. Sie sind beide wach. Viel zu wach. Die Hütte aus Schatten hat sie beide verschluckt, in ihr tiefstes Inneres geschluckt, sie aufgehängt über dem Abgrund in einem Netz aus Nacht. Und doch kann er, kann sie fast jetzt aus den Fenstern schauen, wo dort draußen noch eine Welt ist unter den Schatten. Steht er bei ihr und sie bei ihm, dann stehen sie beide vor dem schwarzen Schlund im Maul des Alls. Was sie beide sind, ist der Kosmos mit aller Kälte und allem Gleichmut. Der Teufel in den roten Stiefeln herrscht. Sie lieben einander, schon, aber er wird nur einen wieder gehen lassen.
Er ist gebannt und denkt dornenscharfe Gedanken, sie zu stoßen, selbst zu fliehen, sie zu vergessen. Sie ist Schuld, muss also bleiben bei dem Teufel in dem Schlund. Sie denkt schneller und stößt ihn, dreht sich um, um selbst zu fliehen. Er ist Schuld, nicht sie, er muss bleiben bei dem Teufel in dem Schlund. Sein Schrei ruft Echos herauf aus der Tiefe, während er fällt. Der Teufel lacht kalt. Die Echos schlagen sie. Sie schreit und springt wie eine Heuschrecke zur leeren Öffnung der Tür. Die Welt liegt im Schatten. Das Lachen des Teufels folgt ihr.
(C) Tobias Reckermann, 2016