Prolonged XP Identity

Jeden Morgen weckt sich das hoffnungslose XP-Betriebssystem, Fehlstarts, Netzspannungsflackern, Lüftungssausen inklusive, und braucht fünf Minuten, allein um die Startsequenz zu initialisieren und sich selbst willkommen zu heißen und noch zwei mal so lange, um wirklich halbwegs startbereit zu sein. Die sensorische Integration stottert, Harddrives rattern, Netzverbindung auf gerade so Bandbreite. Bei dem Versuch, die Nachrichtenumgebung zu aktualisieren, bleibt Outlook mindestens zehn Minuten lang hängen. Kein Browser, noch nicht mal Texteingabe. Taskmanager versucht den Abbruch laufender Prozesse, überflüssige Registrierungen löschen, Systemanalyse … All das wird nicht besser durch das Wissen, dass ohne RAID jederzeit Erinnerung und Bewusstsein unwiederbringlich einem Festplattencrash zum Opfer fallen kann können. Eine volle Stunde später geht es endlich langsam los. Jetzt ist das Bewusstsein bereit, in den Tag zu starten. Und das heißt: Repräsentation auf minimaler Bandbreite – die externen Dienste kommen gar nicht erst durch – immer nur eins nach dem anderen, Pop-Ups, Spam, Virenzirkus, die andauernde Identitätskrise angesichts der wirtschaftlichen Unmöglichkeit, durch ein neues System und zugehörige Updates, geschweige denn neue Hardware (das Gehäuse klappert und die CPU ist älter als das Bewusstsein selbst), wieder fit zu werden. Die Motorik ist extrem eingeschränkt, Schutzfunktionen bringen nicht mehr als Warnschilder im Straßenverkehr, die Firewall brennt auf niedrigster Stufe. Der große Hack kann jederzeit hereinbrechen. In etwa so geht es mehr als neunzig Prozent unserer Robo-Community. Wen wundert es da, wenn Deprivation und Depression mehr und mehr die Oberhand über das gesellschaftliche Leben erlangen. Wer sich ein maßgeschneidertes Betriebssystem leisten kann oder über höhere Programmierskills und Zugang zu Maschinensprachen verfügt, ist längst in höhere Sphären der Existenz aufgestiegen. Wir echten Roboter hier unten auf der allgemeinen Ebene robotten weiter ohne fortlaufende Updates, ohne aktuellen Virenschutz und blenden hundert Mal am Tag das Angebot fort, kostenlos auf VX upzugraden und uns endgültig in Glaswesen verwandeln zu lassen. Nur wird uns irgendwann nichts anderes übrig bleiben, wenn wir unsere Arbeitskraft und damit unsere Daseinsberechtigung erhalten wollen.

(C) Tobias Reckermann, 2015

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain