Man sitzt wie im Filmpalast

Man sitzt wie im Filmpalast in steil absteigend angeordneten Reihen. Nur sind die Sitze aus Holz und hart und der enge Abstand zur Vorderreihe bietet wenig Platz für die Beine. Es gibt ein paar Köpfe, die man von hinten sehen kann, deren Augen auf das zu erwartende Schauspiel ausgerichtet sind. Der Raum ist rund wie eine Trommel, höher als sein Durchmesser und an der Peripherie so wenig beleuchtet, er geht in fast vollkommene Dunkelheit über, aber das Gefühl sagt, es gibt Wände, eine Decke und keine Fenster.
Im Fokus steht ein Operationstisch, also ist der Raum mit Gewissheit ein Hörsaal, und auf dem Tisch liegt ein Körper. Ein Mann, nackt und reglos, der Farbe der Haut nach ein Leichnam, alt, eingefallen, in einem frühen Verwesungsstadium, wovon der Geruch herrührt, untersetzt mit Formaldehyd, mit Holz, Staub und Schatten. Die Anwesenden sind still und beinahe ebenso reglos.
Man kann auf der nackten Haut des Mannes, ein älterer Mann mit zurückgewichenem Grauhaar, Falten, Speckgürtel, Flechten sehen, so sieht es aus, Flechten von grünlicher Tönung, die sich auf Schlangenpfaden mit erstarrten blauen Adern darunter überkreuzen. Der Körper ist halb transparent, ist Pergament, mit hervorstechenden Knochen gefüllt.
Die Augen, bemerkt man da, stehen offen, zumindest eines rollt hin und her, und der rechte Arm zuckt, schlägt aus und da kommt die ganze Gestalt in Bewegung, richtet sich ruckartig auf und springt etwas steifgliedrig vom Tisch, um in grotesker Hampelei eine Art Tanz aufzuführen, wobei sie sich unmöglich weit nach vorn beugt, dann wieder wie auf Stelzen gerade macht und mit den Armen fuchtelt, als wolle sie die Steifheit und Kälte aus den Gliedern schütteln.
Aus dem Dunkel hinter dem Lichtkreis treten drei Figuren, die in weiße Kittel gekleidet sind, zu denen sie Lederschürzen tragen und Kettenhandschuhe. Sie greifen dem Tänzer unter die Arme und Beine, heben ihn hoch und er erstarrt inmitten seiner Bewegung. Dann legen sie ihn zurück auf den Operationstisch. Noch immer sind seine Augen offen und rollen hin und her, doch der Rest des Körpers ist wie im Rigor Mortis gefangen, lässt sich aber mit Kraft auf den Tisch ebnen.
Einer der Chirurgen zieht ein langes Messer, der zweite einen Fuchsschwanz, der dritte ein breites Beil hervor.
Sie gehen mit Methode daran, den Leichnam aufzuteilen. Beine erst, dann Arme, in Stücken, verschwinden irgendwo, bis nur der Torso mit dem Kopf zurückbleibt.
In einer kurzen Pause wird einem bewusst, dass sich der gesamte Raum abwärts zu bewegen scheint, wie ein Fahrstuhl, oder im freien Fall, und das nicht gerade jetzt erst, sondern wenigstens seit dem Beginn des abstoßenden Vorgangs der Sektion.
Zwei der Ärzte – oder Schlachter – halten den Torso fest, während der dritte die Säge am Hals ansetzt und mit drei tiefen Zügen den Kopf von den Schultern löst.
Der Torso wird vom Tisch gehoben, verschwindet ungesehen. Der Kopf bleibt zurück und blickt mit wild zuckenden Augen, aber noch ohne eine Miene zu zeigen.
Noch immer das Gefühl, zu fallen. Die Chirurgen verschwinden im Dunkel, der Lichtkreis verengt sich auf den Seziertisch. Der Blick des Toten richtet sich auf den Betrachter. Der Fahrstuhl kommt mit einem hallenden Klang zum Stehen und das Licht geht aus. Zuletzt verglimmen die glanzlosen Augen des Toten im Dunkel.

(c) Tobias Reckermann, 2016

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain