Nimmerfurt

Mit nassen Füßen am Ufer, Schlamm an den Schuhen. Ein Blick zurück offenbart nichts. Nur kalten Dunst, der das jenseitige Ufer einhüllt. Und voraus eine graue Ebene. Nahe am Ufer ein Verschlag, grob aus Latten gezimmert, die wie Treibgut aussehen. Ein Windschutz, und windschief, mit Dingen behängt. Kleidung, die aussieht, als hinge sie seit Monaten dort. Ein Teddybär. Fotografien. Schmuck. Eine teuer wirkende Halskette. Silber? Eingefasst ein blauer Stein. Womöglich ein Saphir. An diesem Ort wertlos. Ich füge der Sammlung ein Foto hinzu, das mich an einem sonnigen Strand zeigt. Aufgenommen vor einem Jahrzehnt. Ich klemme es fest. Vielleicht nimmt es der Wind mit. Jetzt streicht er mir nur übers Gesicht. Eine kühle Hand. Klamme Finger, die mich betasten. Berührung eines blinden Geistes.

Also sind andere vor mir angekommen. Doch nach mir wird niemand mehr dieses Ufer betreten. Ich bin der Letzte, wenn mich nicht alles täuscht. So wird auch dieser Verschlag niemandem mehr dienen und wird kein weiterer Gegenstand zu der Sammlung hinzukommen. Wird keines Sterblichen Seele mehr darauf blicken, und werden all die Bruchstücke von Erinnerungen, für die diese Objekte stehen, nur zu Staub zerfallen und sich als solcher dem Grau der großen Ebene anschließen.

Sie liegt unermesslich vor mir. Grau wie die oberste Schicht Asche nach einem Brand, unter einem felsengrauen Himmel, wie zum Greifen nah über mir, sich langsam, beinahe unmerklich wie in Gezeiten wiegend. Kaum ein Blickfang auf der Ebene. Nur vereinzelt Erhebungen, flache gestreckte Hügel, und dazwischen die Andeutung von Pfaden. Ich gehe, ohne mir über die Richtung klarzuwerden, die ich einschlagen muss. Alles, was vor mir liegt, ist mir recht. Im Rücken spüre ich nur Vergangenes. Es folgt mir ohne mein Zutun, wird mir immer folgen, wird mich heimsuchen, wie weit ich auch gehe.

Staub legt sich an meine Sohlen, und Staub, denke ich, besteht doch größtenteils aus Partikeln menschlicher Haut. Wie viele also haben vor mir diese Pfade beschritten? Unzählige, seit ewigen Zeiten.

Ihre Spuren sind noch zu erkennen. Auch wenn der Wind sie irgendwann unkenntlich machen wird, ist es doch zuallererst ihre Überlagerung, die jene älteren, uralten, unter den neueren verschwinden und die sie alle zusammen wie die verwaschene Spur eines einzigen im Pfad gebundenen Wesens erscheinen lässt. Zeit und Raum gehen so sehr in eins, dass mich in ihrer Betrachtung, während ich meine eigenen Schritte voransetze, nur Ewigkeit anhaucht.

Und außer die Schritte voranzusetzen, gibt es nichts zu tun, auch nichts weiter zu sehen, weshalb mein Bewusstsein sich ganz von selbst umkehrt und die eben gegangene Strecke noch einmal in entgegengesetzter Richtung zurückzulegen beginnt.

Da ist zuerst, was ich für einen Unterstand hielt, und was in Wahrheit unverkennbar ein Schrein ist, dem die vielen Erinnerungsstücke wie Opfergaben anhängen. Auch ist er nicht aus Treibgut erbaut. Es sind keine Latten, die von Witterung verkrümmt wurden, sondern die Planken eines Boots, zum Bug und Heck hin gebogen und von Alter und dem schwarzen Wasser des Flusses gedunkelt. Ein Boot, eine Barke, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen konnte, denn der Fluss ist beinahe ausgetrocknet. Sein schwarzes Wasser reicht mir ja kaum zu den Knöcheln, doch ist an dem Ufer erkennbar, dass es einmal die Tiefe einer Mannslänge und mehr gemessen hat. Wie Öl ist dieses Wasser, ein schmieriger Film liegt noch auf dem Flussbett und markiert den ehemaligen Wasserstand.

Jenseits der Dunst, der sich erst im Durchschreiten des Flussbetts zu klären beginnt. Vom Ufer aus betrachtet, sieht die Ebene vor mir nicht so sehr verschieden aus von jener anderen. Das Land ist karg bis zur Leblosigkeit. Ich erinnere mich.

Ich habe bis zuletzt durchgehalten, aus nur einem einzigen Grund: Um Zeuge zu werden. Der Letzte zu sein, bedeutet schließlich, dass ich das Ende der Geschichte gesehen habe. Die Flüsse ausgetrocknet; die Felder verdorrt; die Meere vergiftet; die Küsten in die Fluten dieser Meere gestürzt; die hohen Berge geborsten, wie zerstörte Festungen eingestürzt; die Straßen und die Städte verwaist. Kohlenstoffdioxid und Methan speichern die Hitze der Sonne in der Atmosphäre. Das Klima gekippt. Seuchen, Hungersnöte und verzweifelte Kriege sind diesem finalen Zustand in sich überschlagenden Wellen vorausgegangen, in denen die Menschen wie die sprichwörtlichen Fliegen starben. Doch das Aussterben der Arten, ein Prozess den unsere Ahnen Jahrtausende vor meiner Geburt in Gang setzten, stellt das Massensterben der Menschen noch in den Schatten. Es ist das Zeitalter Tenebras, der Dunklen Königin, die einen nach dem anderen zu sich holt, und allein ihre Tempel wachsen nun noch zum Himmel empor.

In Gedanken an diese Tage und meine Erlebnisse dieser Zeit tief versunken, lege ich eine unermessliche Strecke in Trance zurück, überquere die große Ebene des Staubs, und die Zeit misst sich nicht in Tagen und Nächten, denn dieser Himmel spendet weder Tag noch Nacht.

Ewiges Halblicht gewährt Sicht auf in der Höhe schwebende Schatten, einen Tanz der Gespenster.

Vor mir erhebt sich ein Hügelkamm, ich steige hinauf und schaue von oben herab in eine Senke. Was ich für Schatten und Gespenster hielt, wird mir klar, ist Rauch und Hitzeflimmern, die von einem rot glühenden Strom aufsteigen. Ein Fluss aus Feuer durchquert ein weites Tal.

Diesmal flammt die Erinnerung geradezu vor meinen Augen auf. Die Tempel Tenebras brannten Tag um Tag nieder, und wurden doch bei Nacht wieder und wieder aus den Gebeinen der Toten neuerbaut. Die Verfolgung ihrer Getreuen – auch ihre Körper brannten – war auf Dauer so wenig erfolgreich, wie der Versuch, eine immer anschwellende Flut einzudämmen.

Die Hitze versengt mich. Ich wende mich ab, taumele den Hang hinunter, mit vor das Gesicht geschlagenen Händen. Das Hitzeflimmern setzt sich hinter geschlossenen Lidern fort.

Ich gehe geblendet. Nicht blind, aber die Augen sehen nicht, was vor mir liegt. Der Kult breitete sich aus, wie ein Pilzgeflecht unter der Oberfläche. Man konnte sich niemals sicher sein, nicht einem von ihnen gegenüberzustehen, und das eine Mal, als ich mir sicher war, schaute ich in einen Spiegel. Mit filternden Augen, die vor allem eines sahen, nämlich Vergänglichkeit. Meinen eigenen Tod, wie am Ende einer Schnur, die meine Gegenwart unausweichlich mit diesem letzten Moment meines atmenden Körpers verband. Da wusste ich, dass ich zu ihr gehörte. Gesegnet und verflucht mit der Gabe, den Verfall aller Dinge und Körper vorherzusehen. Ganze Lebensspannen auf einen Blick reduziert.

Sie war ein Gerücht, ein Rumoren in den Städten, die Rede ging von geheimen Zusammenkünften, von Riten und Opferungen. Man nahm es so wenig ernst, wie irgendeine Verschwörungstheorie und dabei war es so offenkundig wie die Tatsache, dass es seit Menschengedenken Misswirtschaft, Raubbau und Verschwendung von Ressourcen gegeben hat: Die Vielfalt der Arten verringerte sich wirklich, ebenso wie die Dürren und Ernteausfälle und Sintfluten sich häuften, und die Seuchen, die Konflikte um letzte Wasserreservoirs und fruchtbare Flächen. Nichts davon war von der Hand zu weisen, und es brauchte keinen Kult, um es herbeizubeschwören. Der Kult legte lediglich Zeugnis davon ab und markierte die Stellen künftiger Massaker und Massengräber. Die ersten schwarzen Kreuze sorgten noch für Verwunderung und Unverständnis. Jenes vor dem Brandenburger Tor, das in der Hamburger Bucht oder jenes allererste auf einer griechischen Insel, inmitten eines zur ärmlichen Siedlung erstarrten Lagers für Gäste aus aller Welt.

Ohne die Gabe war ich blind, buchstäblich blind für die Zukunft. Tenebra war damals noch nur ein Hauch in der Luft der Städte, ein Flüstern so leise wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, so leise wie der erste Vorbote eines Hurrikans.

Nach zahllosen Schritten klären sich die Schlieren vor meinen Augen und ich erblicke ein weiteres Tal. Die Aussicht wird von zwei Dingen beherrscht. Zur Linken zieht sich ein weiterer Fluss durch die Ebene, der ebenso wenig Wasser zu führen scheint wie der, den ich zuerst überquert habe. Ein kärgliches Band. Zur Rechten erhebt sich aus dem Staub eine Stadt, zumindest lassen sich die Umrisse eng aneinander gedrängter Gebäude erkennen, und dazwischen Wege, die ein wirres Muster ergeben, in Sackgassen enden oder sich spiralförmig und labyrinthisch selbst zu verzehren scheinen. Wenige führen aus der Stadt hinaus oder in sie hinein und von diesen weist nur einer in meine Richtung. Von den Gebäuden geht kein Licht aus und nichts weist darauf hin, dass die Stadt bewohnt sein könnte. Die Mauern schweigen wie lang in sich selbst versunken. Knochen, die in ihrem Fleisch erstarrt sind, Fleisch, das selbst zu Stein verhärtet ist und in dessen Bahnen längst kein Blut mehr fließt. Blut, das zu Staub geronnen ist. Staub, der sich von der Stadt aus in alle Richtungen erstreckt und in dem der Fluss selbst wie in seinem Lauf erstarrt zu sein scheint. Erst als ich auf die Stadt zugehe, sehe ich klarer und bemerke die wie Findlinge dahingestreuten Körper, die sich so langsam regen, dass ihre Bewegungen kaum auffallen. Es sind menschliche Körper, die zwischen Stadt und Fluss in zähem Taumel treiben.

Ich nähere mich ihnen, doch vorsichtig, als könne ihre quälende Langsamkeit wie eine Seuche auf mich übergreifen. Ihre Gesichter sind leer, die Münder stehen offen, die Augen sind halb geschlossen.

Ich kann diese Wesen kaum als Meinesgleichen erkennen, so wenig wie Fossile; petrifiziert sind sie, durchdrungen von einer Starre, die ihren Bewegungen allen Anschein von Bewegtheit und von innen kommender Regung nimmt. Dabei glaube ich, ihre Gesichter wiederzuerkennen, so als müsste ich sie gekannt haben, sie kennen aus der Welt jenseits jenes anderen Flusses. Doch, wird mir klar, dieser Eindruck stammt daher, dass sie dasselbe gesehen haben wie ich; das sie gesehen haben und nun zu vergessen suchen.

Sie sammeln sich am Ufer, sinken dort auf Hände und Knie und trinken das spärlich fließende Wasser, nach Vergessen dürstend, so sehr, dass der Fluss schließlich versiegen muss. Und was sie zu vergessen suchen, ist mir allzu bewusst, ist ihre Schuld.

Ich stehe daneben und erinnere mich, dass jede und jeder von uns schuldig ist. Keine Existenz unserer Zeit ist davon frei, jede Existenz geht von Geburt an mit dem Verbrauch von Ressourcen und dem Ausstoß von Kohlendioxid einher. War einmal der Kipppunkt erreicht, die Grenze, jenseits derer keine Umkehr mehr möglich war, stürzte jedes Leben schon mit der Geburt in die Schuld, die jeder Atemzug noch vermehrt.

Um die Schuld zu vergessen, werden diese hier zu Stein. Ob in der Stadt, die ich nicht zu betreten wage, oder am Fluss, aus dem zu trinken ich mir nicht zugestehe, um nicht zu vergessen – sie verweigern sich dem Ende des Wegs, den ich bis zum Ende zu gehen entschlossen bin, und wenn ich der letzte bin, der ihn geht.

Ich wende mich ab, lasse sie hinter mir zurück und gehe zwischen Fluss und Stadt weiter, unendlich weiter durch Staub, bis mich meine Schritte endlich an das rauchende Tor bringen. Es ruht in einer den Horizont füllenden Mauer aus fließendem Stein, so wenig greifbar wie Vergangenheit und Zukunft, genauso unauslöschlich und unausweichlich, und ragt bis zum steingrauen Himmel empor.

Ich fühle, dass niemand mir nachkommen wird. Der Rauch des Tors verfestigt sich. Mir offenbart sich Fuge und Schloss. Die Verdammung, das Reich meiner Königin, wartet auf mich.


(c) Tobias Reckermann, 2023

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain