Hinter den Wäldern

Ich kenne niemanden, der den Blinden Fleck gesehen hat. Auch in dieser Sache bin ich also allein. Das Motorgeräusch, Reifen auf Asphalt, Wind auf den Scheiben – das ist es, mein ganzes Universum.
Die Qualität der Straße nimmt zusehends ab. Vorhin waren es noch zwei Spuren in jede Richtung, jetzt nur noch eine und der Belag ist längst nicht mehr so frisch und glatt wie zuvor. Das ist, seit dem wir im Wald sind – mein Diesel und ich.
Bisher habe ich nicht darauf geachtet, jetzt aber kommt mir der Gedanke, dass dieser Wald vielleicht nie mehr aufhört. Es müssen an die sechzig Kilometer sein, mehr noch, immer geradeaus, immer unter Bäumen und vor allem ohne eine einzige Abzweigung oder Kreuzung oder Ortschaft, ohne Straßen- und Verkehrsschilder. Nur Asphalt und Seitenstreifen. Der Mittelstreifen ist vor einer Weile verschwunden, die Markierung an den Rändern auch, dafür rücken die Sträucher und Unterholz näher. Der Wald hat es auf die Straße abgesehen, so jedenfalls sieht es aus.
Irgendwann im Verlauf des Tages bin ich zum Kettenraucher geworden und es ist ein Glück, dass da noch zwei Päckchen in der Tasche sind. Etwas, das mich davon abhält weg zu driften, weil es immer nur in eine Richtung geht. Die Richtung von der ich hoffe, dass sie mich in Sicherheit bringt.
Warum sich meine Gedanken nicht mit dem befassen was vor mir liegt: Vor ein paar Tagen fand die Wahl statt und alle meine Freunde wählten schwarzbraun wie die Haselnuss. Gasgeruch lag in der Luft und ich packte meine Sachen in den Wagen, verließ mein Zuhause und suchte das Weite jenseits der Grenze, in einem fremden Land, wohin sie mir nicht folgen würden.
Heute wurde mir dann klar, dass nicht das Land fremd war, sondern ich selbst und niemand mich als Mensch erkannte. Alle trugen Messer unter dem Herzen und ich lief um mein Leben, wählte die Straße und fuhr wie der Teufel, den sie in mir gesehen zu haben scheinen.
Sind diese Gründe ausreichend? Das nehme ich doch an.
Der Fleck scheint sich auszubreiten. Er war zu Anfang ganz klein, nur ein Stecknadelkopf in einem Heuhaufen von Welt um mich herum. Daraus ist ein Daumenabdruck geworden und jetzt ein dunkler Mond, ein Gesicht im Schatten. Es ist kein Fleck mehr, sondern eine sich ausbreitende Schwärze in meinem Blickfeld, so, dass alles rechts vom Lenkrad wirkt, als hätte man Kaffee darüber geschüttet oder ein Fass schwarze Tinte, die entlang der Kanten verläuft und die ohnehin dunklen Bereiche verfinstert. So ist mein Leben gerade. Es verdüstert sich, wird unscharf dadurch und entfernt sich von mir in dem Maße, in dem die Dunkelheit näher rückt. Es liegt jenseits eines geschwärzten Glases, als wäre es eine Sonnenfinsternis, die man durch Ruß auf einer Scheibe hindurch betrachtet. Erinnerungen färben sich ein, an meine Freunde, an mein Land, meine helle Vergangenheit wird düster, alles was ich getan, erlebt habe, nimmt die Tönung von Tusche an.
Jetzt kommen die Schlaglöcher und der Wagen rumpelt wie eine Werkzeugkiste. Von zwei Spuren kann nicht mehr die Rede sein. Die eine ist gerade breit genug für uns. Äste streifen das Dach und die Seitenscheiben, aber ich fahre auch so schon langsam, denn sehe ich nicht mehr viel durch den dunklen Schirm.
Gar kein Asphalt mehr. Das ist nur noch ein Pfad aus gepresster Erde, von dem der Wald mit seinem Kraut Besitz ergreift.
Es geht nicht mehr weiter. Es gibt keine Straße mehr, nur noch Strauch und Hecken. Keine Bäume, ich muss aus dem Wald heraus sein, dort oben ist der Nachthimmel. Der Wagen steht, ich steige aus. Als ich mich umdrehe ist das Auto nicht wieder zu erkennen. Nur noch Rost und Flechten, als würde es schon Jahrzehnte da stehen.
Ich gehe zu Fuß, bis …
Der Himmel … Das Schwarz, die Sterne … ziehen mich an, mehr als die Erde unter meinen Füßen. Ich werfe mich auf den Boden, kralle mich fest. Als das Schwarz aus meinem Blick in ihn sickert, öffnet sich der Boden. Ein Loch … zieht mich hinab. Es ist nicht mein Auge, meine Welt löst sich auf, mein ganzes Universum verliert sich, wird von innen aufgefressen. Mein Körper wendet sich gegen mich, seine Zellen werden schwarz und böse und verschlingen mich.
Hier gibt es keine Realität, nur meinen Geist, mein Ich.
Nicht mehr Ich, kein Sein, kein Leben.
Vielmehr Tod.

(C) Tobias Reckermann, 2015

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain