reversum

Das haus hat diesen staubigen 50er jahre flair mit senfgelben wänden und chinarestaurantkalendern im treppenhaus. Ich weiß nicht, wer hier sonst noch wohnt, aber auf der anderen straßenseite ist gleich das krankenhaus, was mich gleichzeitig beruhigt und beunruhigt. Mich gruselts. Keine ahnung wie ich hier gelandet bin. Da war noch jemand, der mit mir eingezogen ist. Mitbewohner? freundin? Warum kann ich mich nicht daran erinnern? Ich war doch auf dem aufstrebenden ast, oder nicht? Ich hatte einen job und ich hatte einen plan. Ich habe noch die klingelschilder vor augen, aber die namen verschwimmen vor meinen augen. Nichtssagende namen, inkognitos. das eine gespenst von nebenan habe ich mal gesehen, ein flüchtiger blick in ein runzliges gesicht mit getönten haaren obendrauf. Keine wärme im angesicht, kein echtes lebenszeichen. Das haus sieht schon von außen total verranzt aus. So ein haus, an dem man vorbei geht, ohne es zu bemerken. Eine nummer zwischen den nummern, zeile zwischen den zeilen, ein blinder fleck, schmachvoll. Wie bin ich hier her geraten? Ich war vor nicht langer zeit noch da draußen, bin auf die straße gegangen, aber das gefühl hat nicht gestimmt. An mir sind leute vorbeigegangen, ich habe ihre gesichter nicht erkannt, nur verwischte flecken mit dunklen andeutungen von augen und mündern, die vielleicht sprachen, vielleicht auch schrieen, aber ich konnte nichts hören, keinen einzigen laut. Ich weiß noch, ich wollte irgendwo hin, irgendwo, nirgendwo. Ich weiß nicht mehr wohin. Meine schritte sind wie am pflaster abgeglitten, haben mich immer und immer wieder an die hauswand zurück gebracht. Abgründe haben sich aufgetan. Ich dachte, ich könnte springen und dann sah ich, dass es ganz weit runter ging und ich mir ganz gewiss alle knochen gebrochen hätte, wenn ich es wirklich getan hätte. Mit dem rücken zur wand, die hand auf der brust, wo das herz ist und vor mir rasen autos ohne geräusch vorbei. Das licht ist nicht richtig, jede oberfläche, jede form, jedes detail ist in senfgelb und staub getränkt. Auch die wolken am himmel. selbst das licht geht gebeugt. Kein geräusch, kein geräusch, aber ein rattern und stampfen und walzen kommt als virbrationen von unter der erde herauf und setzt sich in meinen knochen fort. Ich bin wieder reingegangen. Hab die tür hinter mir zu gemacht, bin die treppe rauf, in die wohnung. Wieder tür zu. Rechner an. mp3-wiedergabe. Nevermind. Nirwana. Ganz laut! Und wieder mit dem rücken zur wand. An der wand entlang, bis zum fenster. Die gardine leicht zur seite geschoben. Auf der anderen seite. Da ist das rote kreuz. Leuchtet. Soll mir etwas sagen, irgendwas. Ich verstehe es nicht. Ich höre es nicht. Hab watte in den ohren. Watte im kopf. Ein wolkenhaupt. Ich schlafe tief, träume wild. Der traum ist klar zu verstehen. Glasklar. Klar wie eine brise am strand. Klar wie ein ungetrübter teich. Auf der anderen seite ist mein gesicht. Kein echtes lebenszeichen, keine wärme im antlitz, kein funke im blick. Ich wende mich ab. Es ist nacht. Es ist etwas in der luft. Ein geruch. Ich suche nach der bedeutung. Ich weiß, da ist eine, muss sie nur finden. Muss raus hier und mich auf die suche machen, die quelle finden. Ich verlasse die wohnung, schritte abwärts. Nächster absatz. Chinesischer glückskalender. Das jahr des tieres, irgendein tier. Nicht wichtig. Ich stehe vor dem fenster. Es ist wieder tag. Senfgelb, staubig. Der geruch ist stärker geworden. Ich schaue in den innenhof. Kein grün, nur grau – und eng. Kein platz für begegnung. Nur ein schacht, der in die tiefe führt. Ich sehe den boden nicht richtig. Zu dunkel, viel zu dunkel, voller schatten. Mir wird schwindlig. Richte den blick geradeaus, wie auf einem schiff, wenn einem schlecht wird vom wellengang. Der geruch beißt im hals. Ich muss husten. Rauch aus meiner lunge. Direkt gegenüber: zwei schwarze löcher in der wand, wie verkohlte augen. Brandgeruch. Fenster einer ausgebrannten wohnung. Der anblick wird zu schwer, drückt mich nach vorne. Meine stirn schlägt gegen die scheibe. Mein atem beschlägt das glas. Ich sehe den abgrund, den innenhof. Ich sehe meinen eigenen tod.

(c) venom&claw

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain