the empathist

Komm, trink grünen tee mit mir, ich erzähl’ dir eine geschichte aus der nachbarschaft. X – der typ hat hier ziemlichen wirbel gemacht. X ist jetzt 32 und sitzt in einer stahlkammer auf sedativen und spricht mit der wand. Ich würde sagen, die geschichte ist damit zu ende und das ist gut, weil sie damit immerhin überschaubar bleibt. Ich will ja nicht ewig erzählen. Also x ist von einer mädchengang so hart rangenommen worden, dass ihm danach mehrere zähne, ein hoden, ein auge und drei finger fehlten. Ein riß in der milz, gebrochene rippen, ein loch im kopf. Er war da 23 und danach hat er schon das zittern gekriegt, wenn er nur in die nähe einer frau kam. Ok, du denkst, der typ ist ganz übel gefickt, aber das ist noch nicht alles: stell dir vor, wie x durch die innenstadt geht. Sein eines auge ist ständig unterwegs und alle nase lang dreht er sich um. Sobald irgend eine frau anstalten macht, ihm zu nahe zu kommen, weicht er zur seite aus und wenn es eng wird, legt er einen zahn zu und spürt ein grausen auf der haut, wie wenn du einen horrorfilm guckst. Übrigens, alle frauen stimmt nicht ganz, irgendwo über fünfzig macht es ihm wohl nichts mehr aus, er kann auch seine mutter ertragen, egal – also x windet sich durch die fußgängerzone. Seine gedanken sind unklar, er kann sich nicht richtig konzentrieren. Er sieht den leuten in die augen, kurz nur, aber mit der zeit hat er es raus, nach einem blick eine vorstellung vom charakter seines gegenübers zu entwickeln, ob die jetzt stimmt, oder nicht, jedenfalls überkommen ihn ständig stimmungen und manchmal weiß er nicht mehr, ob er sich im park hinter einen busch verkriechen, schreiend nach hause rennen, oder dem nächsten passanten den schädel einschlagen will. Das zehrt natürlich an ihm. Er kommt endlich zu dem schluß, dass es gar nicht seine eigenen launen sind und auch nicht seine gedanken, die da dauernd über ihn herfallen, wie bissige köter. Kann schon sein, dass er komplett irre ist, aber es setzt sich richtig fest in seinem kopf, dass er nicht mehr herr seiner selbst ist, sondern ein spielzeug für fremde geister. Und das ist es: x ist mit dem fluch der empathie geschlagen, zumindest glaubt er das. Ihm fehlt irgendwie die soziale haut. Er ist Wie ein radio, das alle paar minuten neue frequenzen auffängt und eben spielen muß, was der äther hergibt. Und ganz ehrlich, das programm gefällt x überhaupt nicht: alle todsünden auf einem haufen. X war eigentlich ein ziemlich netter typ und hätte nie geglaubt, dass seine mitmenschen nicht besser sind, als eine horde triebgesteuerter teufel. Wie du dir denken kannst, zieht x den schwanz ein und geht einfach nicht mehr aus dem haus. Das ist logistisch erst mal ein problem, aber sein überlebenstrieb ist stark genug, dass er das auf die reihe bringt. Eine zeitlang geht alles gut. Gedankenstille, ruhe im gemüt, keine selbstmordgedanken mehr, alles easy – ok, du weißt, wie die story ausgeht, also muß irgendwas schiefgehen und das geht so: die einzige person, die x noch sieht ist seine mutter und die hat mir das ganze dann auch erzählt. Ist nicht dumm die dame und hat sich ein paar gedanken gemacht. Sie meinte zu mir: stell dir mal vor, mit so einem fluch leben zu müssen. Wie, stellst du dir vor, geht man damit um? Also ich denke, es gibt so unterschiedliche typen, aber letztlich fallen mir nur 3 arten ein, wie man damit umgehen kann. Erstens, du tanzt mit den wellen, wirst hin und her geworfen, wie das schicksal eben spielt und hoffst, das die flut dich nicht verschlingt. Zweitens, du stehst da wie ein fels in der brandung und versuchst, dich nicht beeinflussen zu lassen. Das geht vielleicht eine weile gut, aber am ende kriegt es dich doch. Das ist wie erosion – egal wie sehr du dich sperrst, mit der zeit zerbröselst du und wirst zu staub. Drittens, und ich finde das ziemlich nahe liegend, du hältst voll dagegen, schwimmst gegen den strom und verhältst dich wie ein tier, das sich bedroht fühlt. Ohne rücksicht, aus reinem überlebenstrieb beißt du einfach zu und schlägst wie wild um dich, lässt sie alle ihren eigenen hass spüren. Du bekämpfst feuer mit feuer. Und x? x hat alle drei arten durchgemacht. Zuhause bleiben ging eine weile gut, aber dann, weißt du, irgendwann komme ich ins haus rein und höre stimmen, ganz verschiedene. Erst eine frau die weint, dann ein kreischendes kind, einen brüllenden mann und so weiter. Mir war klar, das x keinen besuch hat und fernsehen kann es auch nicht sein. Ich finde x im bett und mir stehen die haare zu berge, als ich das sehe: er selbst gibt all diese stimmen von sich, wie ein radio, wo einer dran dreht – er ist vollkommen wahnsinnig, denke ich, aber das ist es nicht, nein, irgendwie hat sich der fluch verstärkt, die gedanken und gefühle kommen von draußen, durch geschlossene fenster und türen rein und… da bricht sie mitten im satz ab und in tränen aus. Na ja, den rest haben wir hier alle miterlebt. X will selbst zum sender werden, besorgt sich zwei kanonen und fängt direkt vor dem laden an auf die die leute zu schießen. Schreit dabei die ganze zeit: raus aus meinem kopf ihr schweine! Kann sein, das er ein schlechter schütze ist, vielleicht ist er aber auch nur zu aufgeregt, oder abgelenkt von der ganzen panik, die auf ihn losgeht, wie ein schwarm hornissen. Er erwischt zwei leute mit einem streifschuß, dann knallen ihn die bullen über den haufen. Ein loch in der lunge, aber das hat er überlebt und, na, das war’s. seitdem sitzt er im kuckucksnest. Natürlich hat ihm keiner von den docs geglaubt und ich frage mich, wie es ihm wohl geht? Im irrenhaus? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da viel gute gefühle und gedanken gibt. Hoffentlich sind die wände aus stahl dick genug.

(c) venom&claw

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain