Gottlose Fantasy

Es gibt eine Reihe von Grundannahmen, die für Settings der Fantasyliteratur von Bedeutung sind.

(1) angenommen, Körper, Geist und Seele könnten unabhängig voneinander existieren

(2) angenommen, alles Wesenhafte könnte auch zu Bewusstsein gelangen und einen Willen besitzen

(3) angenommen, jeder Aspekt der Wirklichkeit könnte als geschlossene Sphäre eine eigene Welt darstellen

(4) angenommen, Geist und Wille könnten über die Materie herrschen.

(…)

Solche Überlegungen bereiten die Grundlage für eine magische Welt und es ist leicht einsehbar, wie durch die genannten Beispiele allein ein hohes Level an Wunderbarem zu erreichen ist: Wenn (1), dann können Geister Verstorbener im Diesseits spuken oder in einem Jenseits weiterexistieren. Gedankenreisen sind dann etwas ganz Wirkliches. Wenn (2), dann ist die für uns unbelebte Natur voller Wesen, voller Bewusstsein und Wille. Beispielsweise ein Stein, eine Quelle oder ein Schwert stellt dann eine Entität dar, der mit Respekt zu begegnen wäre, die angebetet oder auch versklavt werden kann. Wenn (3), dann lassen sich Orte betreten, die ganz Dunkelheit sind oder ganz Krieg oder Erde und so weiter, und über die eine Wesenheit wie etwa ein Gott herrschen kann. (4) ist die erste Prämisse der Magie schlechthin. Mittels Symbolen, Sprache und Gesten, vielleicht auch durch bloße Gedankenkraft kann so ein Mensch oder ein Gott die Wirklichkeit formen. In Welten, die auf solchen Prämissen gegründet sind, können Magier und Götter existieren.

In den eher konservativ gestalteten fiktionalen Welten, etwa G.R.R. Martins Das Lied aus Eis und Feuer oder Tad Williams‘ Shadowmarch, existieren Götter, die Aspekte der Wirklichkeit abdecken, nicht so sehr als ein einzelner Gott, der über die gesamte Schöpfung gebietet, sondern als ein ganzes Pantheon, das die Herrschaftsgebiete ihrer Welt unter sich aufteilt. Mal treten sie mehr, mal weniger in Erscheinung. In Das Lied aus Eis und Feuer etwa halten sie sich sehr zurück. Es ist für den Leser nicht einmal erwiesen, dass es sie wirklich gibt, und doch spielen sie im Geschehen dieser Welt eine wichtige Rolle. In Shadowmarch wiederum wird ihre Biographie genau erforscht, sie nehmen Einfluss auf das Geschick der Welt und der Menschen. In Tolkiens großem Genreklassiker Der Herr der Ringe spielen Götter zunächst kaum eine Rolle. Weder Sauron noch ein Vertreter der Guten, nicht Gandalf noch die Elfen sind Götter, sie alle sind vielmehr zaubermächtige Wesen. Gandalf allerdings, so erfährt man, wurde mit vier anderen Istari genannten Zauberern als Helfer des Guten in die Welt geschickt. Ganz im Hintergrund steht also eine Art Weltgeist oder Gottheit, die indirekt aber höchst wirksam in die Geschichte eingreift (mehr darüber – die Schöpfung der Welt Arda, den Gott Iluvatar und seine Helfer, die Valar – erfährt man erst in Tolkiens Das Silmarillion).

Eine etwas weniger konservative Welle der neueren Fantasy behandelt die Götterfrage ganz anders:

tyranny-of-the-night-coverTyranny of the Night (Instrumentalities of the Night) von Glen Cook: hier sind Götter regelrecht Jagdwild, auf die mit Pulver und Blei angelegt wird. Die gewählte Aufgabe des Protagonisten ist es, so viele von ihnen wie nur möglich aus der Welt zu schaffen und dabei zeigt er sich als äußerst erfolgreich. Eine Industrie entsteht um die Herstellung von Schusswaffen, denen selbst die mächtigsten der Instrumentalities nicht gewachsen sind. Schon in seinen Reihen um das Dread Empire und die Black Company aus den achtziger Jahren verfolgten Glen Cooks Protagonisten Gottheiten und Mächtige; als Vater der Grimdark scheint mir der Autor damit wirklich etwas ins Rollen gebracht zu haben.

Blutwerk (Chroniken des Wahns) von Michael R. Fletcher: hier bestimmt Glaube die Wirklichkeit. Götter sind ein Produkt der Vorstellungskraft, so können Menschen selbst sich zu Göttern aufschwingen. Maßgeblich ist dabei der Wahnsinn beteiligt, denn Wahnsinn, als die stärkste Form eines zur gegebenen Wirklichkeit konträr gehenden Glaubens, ist hier buchstäblich in der Lage, die Welt umzukrempeln.

Die Stadt der tausend Treppen (Die göttlichen Städte) von Robert Jackson Bennett: Die Zeit der Götter ist vorüber. Die Protagonisten sind Kammerjägern gleich damit beschäftigt, die letzten von ihnen und ihre Nachkommen auszurotten.

518uqYV0UpL._SX312_BO1,204,203,200_In Verflucht (Ära der Götter) von Ben Peek liegen die Götter seit Jahrtausenden sterbend herum. Ihr Einfluss ist passiv und doch weitreichend, denn unter der Einwirkung durch ihre Körper entwickeln Menschen wie die junge Protagonistin wundersame Fähigkeiten. Im Original trägt der erste Roman der Reihe übrigens den Titel The Godless.

In Rebellion (The First Empire / Zeit der Legenden) von  Michael J. Sullivan sind Götter Tyrannen, gegen die sich der Protagonist auflehnt, nachdem die Menschheit lange unter ihrer Knechtschaft gelitten hat. Dieses Thema findet sich bereits in vielen Werken der Fantasy, wird hier noch einmal in Reinform geboten.

Man könnte meinen, den Göttern ginge es nicht gut. Ein recht kurioses Phänomen: mit dem späten 18. Jahrhundert und der Aufklärung beginnt sich in der realen Welt die Erkenntnis von der Haltlosigkeit aller Religion zu verbreiten und schon bald darauf formt sich ein literarisches Genre, die Fantasy heraus, in dem alles Wunderbare und auch die Möglichkeit der Existenz von Göttern erhalten bleibt, gewissermaßen konserviert, wo der Einzug des Realismus sie aus der übrigen Literatur verdrängt. Nun, da sich der Atheismus nach mühsamer Arbeit weltweit durchzusetzen beginnt, der Einfluss selbst der großen Religionen immer geringer wird, geraten auch die literarischen Gottheiten in Bedrängnis. Es ist eine gottlose Fantasy, die wir heute haben, indem sie die Göttlichkeit ihrer Götter nicht unhinterfragt lässt, auch nicht unangefochten, und indem sie die Machtverhältnisse zuweilen ganz umkehrt. Wo Glaube die Wirklichkeit formt, sind die Gläubigen, die Menschen also, letztlich mächtiger als ihre Gottheiten. Letztere unterliegen, wenn schon nicht den Waffen, dann doch dem Willen derer, als deren Herren sie sich verstehen. Götter können auf diese Weise zu Sklaven werden.

Die anfangs genannten Prämissen bleiben indes dieselben, Fantasy mag ihr Gesicht und ihren Umgang mit daraus resultierenden Vorstellungen ändern, aber das Wundersame bleibt natürlich erhalten, selbst wenn die Göttlichkeit schwindet. Und wie die Roman-Beispiele auch zeigen, sind Götter zwar nicht unsterblich, doch kehren sie zuweilen unverhofft wieder, wenn auch nur, um auf ein Neues getötet zu werden.

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain