Meine Welt ist voller Bücher und doch fühlt es sich manchmal so an, als gäbe es keins. Gerade nach dem Auftauchen am Ende eines langen und intensiven Durchlebens eines Romans kann mir das passieren. Es ist dann ein Blättern und Suchen, ein Anfangen und Weglegen und neues Aufschlagen und wieder Schließen, von Roman zu Storysammlung, zu diesem, zu jenem, von Fantasy zu Horror zu Science Fiction, bis ich auf Klassiker auszuweichen versuche, die doch eigentlich immer lesbar sein sollten. In solchen Momenten fühle ich mich geradezu heimatlos. Oft kann ich nach zehn und mehr angebissenen Stücken, mal fünf Zeilen oder fünf Seiten, mal auch fünfzig Seiten eines Bandes einfach nicht noch mehr davon lesen, genießen oder auch nur ertragen. Ich lese, was mir gefällt, nicht was ich muss, denn Pflichtlektüre habe ich mir verboten. Meine Auswahl ist immer schon zu Beginn eng gesteckt. Ich mag Handlung, brauche sie meist, um ihrem Faden zu folgen, als einer Spur. Wo hingegen ich nicht mehr als bloße Handlung erwarte, Klischees und neun Mal aufgekochtes, reine Unterhaltung ohne irgendeinen Neuigkeitswert, schlage ich meist von vorneherein ein umgekehrtes Kreuz an die Tür – „hol‘s der Teufel“ – ich will, nein brauche etwas, das mein Gehirn aufmischt, mich zum Denken bringt, mich in meinem Entdeckungsdrang nährt.
Wäre es so, dass mir für den Rest meines Lebens nur noch sagen wir fünf Bücher blieben und obwohl alle gut, mir am Ende doch nur ein oder zwei zusagten – da hätte ich ein großes Problem. Sich „den kleinen Bedarf selbst zu schreiben“, wie Tucholsky sich das vornahm, funktioniert auch nicht so recht, gerade dann, wenn einem die Konversation mit anderer Autoren Bücher nicht gelingen mag. Doch sind da noch so viele wichtige Bücher, wichtig im Sinne von stilprägend, einzigartig, epochal und so weiter, da sollte es doch möglich sein, wenigstens ein Nächstes zu finden, das mir die literarische Heimatlosigkeit beendet, mich zu fesseln vermag. Bisher, zum Glück, habe ich immer ein nächstes Buch gefunden, auch wenn das Suchen danach manchmal trübe Wasser zu durchkreuzen hieß, mitunter tagelang. Ein vielleicht passendes Bild dazu ist wirklich das Schwimmen in seltsamen Gezeiten und dabei liegen viele Inseln umher, doch sind die meisten öde Sandbänke, kahle Felsen, teils auch ganz einfach Scheininseln, die aus nichts weiter als Schaum und dessen farbigem Glitzern in der Sonne bestehen. Manches Festland wiederum scheint zu groß, tatsächlich, zu gewaltig groß und vielleicht nur Wüste zu sein. So ist es beispielsweise mit zehntausend Seiten langen Reihen, die ich nicht zu betreten wage, weil ich fürchte, am Ende einer großen Reise erkennen zu müssen, dass der große Aufwand sich doch nicht gelohnt hat.
Dann liegen da in den Wellen noch jene besonderen Orte – und davon gar nicht wenige – die einen Besuch ganz sicher lohnen müssten. Doch die Ufer sind zu steil, zu sumpfig oder von Dornen verwehrt. Dies sind für meinen Begriff schlafende Inseln und Festländer. Sie liegen auf festgeschriebenen Koordinaten, sind mir aber nicht zugänglich, vielleicht jetzt nicht, doch irgendwann einmal. Bücher sind ja so gut wie unsterblich.
Bücher, die ich nicht gelesen habe…
…, obwohl ich den Versuch schon gemacht habe. Menhire, sprich Meilensteine der Fantastik, angefangen, sein gelassen, aus verschiedenen Gründen.
Zum Beispiel ist mir John Crowleys Romanwerk, angefangen mit Engine Summer (Maschinensommer), über Little, Big (… oder das Parlament der Feen) bis zu Aegypt nie zugänglich geworden; M. John Harrisons große Science Fiction-Trilogie um den Kefahuchi-Trakt liegen noch immer unerkundet da; Gene Wolfe, dessen The Book oft he New Sun (Das Buch der Neuen Sonne) ich als eines meiner Lieblingswerke überhaupt zähle, ist mir mit dem Großteil seiner sonstigen Romane verschlossen geblieben; Moorcocks Gloriana, warum bin ich nie über die ersten zwanzig Seiten hinaus gekommen? Ist es zu opulent? Das erscheint mir möglich, Opulenz ist nicht unbedingt, was mich begeistert, nicht als solche, nicht an sich. Auch Lord Dunsanys Erzählungen sind mir wohl etwas zu märchenhaft, obwohl sich doch jede Zeile für sich zu lesen für mich gelohnt hat. Eigentlich, nehme ich an, müsste ich Alastair Reynolds Science Fiction mögen, bin aber nie damit warm geworden. In älteren Werken, Kubins Die andere Seite etwa, ist mir die Sprache oft zu manieriert. Vor innerem Verbeugungszwang bin ich geflohen, habe das Buch, obwohl es sicher gut ist, unvollendet in das Regal zurückgestellt, wo es als standhafter Soldat einer schweigenden Armee nun steht.
Gelesene Bücher schweigen nicht, sie winken und grüßen laut, wenn mein Blick auf sie fällt. Die Ungelesenen sind nur von Rumoren umhüllt, den Gerüchten und Echos flüchtiger Eindrücke, möglicherweise sind sie stumm, weil sie mich nicht mögen, oder aus Arroganz, beziehungsweise dem Wissen, doch Klassiker zu sein, auch wenn ich – unbedeutender Leser und Nichtleser, der ich bin – sie nicht lese. Sicher sparen sie sich alles, was sie zu sagen haben, auf für die Zeit, in der ich sie doch noch durchwandere, diese Inseln und Kontinente.
Noch zu sagen bleibt, dass so manches Unvollendete doch schon mit einem einzelnen Satz mein Freund geworden ist, selbst wenn ich nie über diesen hinaus gekommen bin.
(Titelbild: (c) Francois Schuiten)