Kapitel VII

Kapitel VII meines Romans „Das Schlafende Gleis“

Nach tagelangem Regenwetter schimmerte die Küstenstraße in den ersten Sonnenstrahlen, wie eine frisch geölte Schwertklinge. Starker Wind trug noch immer schwere Wolken von der See her und blies beißend kalt über das karge Land. Der Anblick erinnerte an eine Schlacht zwischen Licht und Finsternis, in der die von Schlaglöchern wie von Granateneinschlägen zersiebte Straße die Frontlinie darstellte. Das Nachmittagslicht fiel schräg ein, wie Kanonenkugeln und wo es auf Gischt traf, spritze Blut in Regenbogenfarben. In diesem Bild befand er sich genau da, wohin ihn sein Schicksal schon all die Jahre über gestellt hatte. Mitten im Kreuzfeuer, dort wo die Zahnreihen des Krieges aufeinander bissen. An der Front. Unmöglich, das hinter sich zu lassen, nur weil es vorbei war. Seit der Landung bei Holstatt waren viele Tage auf dieser Straße vergangen, in denen Bilder wie dieses ihn wie verhungernde Hunde verfolgt hatten. Blank war froh, wenigstens den Mantel mit hochgestelltem Kragen und Stiefel als Kriegsbeute behalten zu haben. Den Degen und seine zwei Pistolen war er schon beim Zeugmeister losgeworden und außer der Überfahrt auf einem halbleeren Frachtkahn gab es vom kaiserlichen Heer nichts weiter als ein paar leere Worte zum Dank für sieben Jahre Dienst und eine verlorene Hand. Das wenige Geld, dass ihm ausgezahlt worden war, steckte in einer verborgenen Tasche des schweren Stoffes und würde darin bleiben, bis er seine Familie erreichte. Falls er sich jemals traute, seiner Frau unter die Augen zu treten. Anstatt ihres Mannes bekäme sie einen vorzeitig gealterten Invaliden zurück, der kaum für sie und die Kinder würde sorgen können, die ohnehin nicht mehr als seinen Namen kannten und einen Mann, der in Übersee geblieben war. Sein Name, den er selbst seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Der Mann, der er gewesen war und nie wieder sein würde.

Ein paar Häuser machten noch keine Stadt und ein paar verwaiste Piers noch keinen Hafen. Um von der Höhe und dem eiskalten Herbstwind fortzukommen, bog blank trotzdem in den Seitenweg ein, der ihn hinab zu dem elenden Kaff mit seinen drei Fischerbooten und der am Hang gelegenen Burg mit Ausblick auf das stahlgraue Meer brachte. Die Leute dort würden oft solche wie ihn zu Gesicht bekommen, die nicht mehr als Landstreicher waren und sich von Nord nach Süd, oder wie er von Süd nach Nord schleppten und bei jeder Siedlung Halt machten um Mitleid zu erregen und zu betteln. Er hatte nichts anzubieten, womit er sich eine warme Nacht und Essen verdienen könnte. Es gab nur drei Straßen. Eine davon führte an der Klippe entlang hinauf zu der Burg, eine nach rechts in einem Bogen um die kleine Bucht und die dritte, die Hauptstraße, direkt hin zum Wasser. Ein Wirtshaus, ein ehemaliger Tempel, der als Unterkunft für eine Abteilung der Volksbrigade diente. Die Armee des großen Verteidigers unterhielt überall an der Küste und in den meisten Städten im Landesinneren Stellungen. Da es sich um Soldaten handelte, führten ihn seine Schritte zuerst dorthin, anstatt in das Wirtshaus. Am Eingang des Tempels stand nur eine Wache. Ein junger, blonder Kerl in laxer Haltung, die Muskete an den Türpfosten gelehnt und offensichtlich angewidert, als Blank vor ihn trat. Die blaurote Uniform, mit Rockschößen, die bis zu den Kniekehlen reichten, Gürtel und Schärpen in schwarz, ein Kavalleriesäbel, Bajonett, den Dreispitz in die Stirn geschoben, mit verschränkten Armen, schaute der Mann ihn von oben herab an. Blanks ehemaliger Rang zählte nichts. Ansonsten hätte er als Sergeant den Gemeinen aufgefordert ihn seinem Offizier anzumelden. Sich in die neue Rolle als Bittsteller zu fügen viel nicht leicht, solange ein Rest von militärischem Stolz gegen sie aufbegehrte. Was half war die Erinnerung daran, wie es gewesen war, als junger Soldat selbst auf abgewrackte Veteranen wie ihn zu stoßen. Man wollte nicht wissen, was am Ende einer durchschnittlichen Karriere auf einen wartete und reagierte unwillkürlich mit Verachtung. Der Musketier speiste ihn mit ein paar Münzen ab und ersparte Blank, seine Kriegsgeschichten zum Besten zu geben, was von älteren Soldaten oft als Gegenleistung für einen Zug aus der Ginflasche eingefordert wurde. Er musste sich zwischen einem Strohlager und etwas zu essen entscheiden. Da der Tag noch nicht ganz zu Ende war, es blieben noch zwei Stunden Tageslicht, fiel die Wahl auf Brot und einen Streifen Dörrfleisch. Der Wirt, der um diese Zeit noch nicht viel zu tun und anscheinend ein Herz für Veteranen hatte, stellte noch eine Flasche Wein dazu und fragte, wo er gedient hatte. Die Wärme der Schankstube tat ihr Bestes um Blanks Knochen aufzuheitern.

Als er wieder auf der Straße war, lag ihm ein Marschlied auf der Zunge und er pfiff mit dem Wind um die Wette. Nach Aussage des Wirts gab es weiter nördlich in den Klippen einige Höhlen. Blank verließ die Straße wieder und ging am Strand entlang, wo die Wellen seine Stiefel leckten. Er sammelte Treibholz für ein Feuer und lud sich so viel davon auf, wie es mit einem und einem halben Arm möglich war. Da es jetzt dunkel wurde, war die Steilwand voller Schatten und Blank brauchte mehrere Anläufe, bis er eine Höhle fand, die sich für die Nacht eignete. Gerade so hoch gelegen, dass die Flut sie nicht erreichen würde, war die Öffnung quer zur Wasserlinie ausgerichtet. Der Wind griff nicht weit ins Innere und machte sich nur mit seinem Heulen bemerkbar, sobald man ein paar Meter hinein gegangen war. Blank zündete das Feuer an und schichtete feuchtes Holz so an der Wand daneben auf, dass es noch trocknen konnte, bevor er es in die Flammen geben würde. Er rieb sich die Hände über den Flammen und wartete, bis sich etwas Glut angesammelt hatte, bevor er sich an Brot und Fleisch heranmachte. Langsam kauend schaute er zu, wie sich das Wasser mit der Ebbe zurückzog und das letzte licht mit den Wolken kämpfte. Der Wein war sauer aber der Rest den er mitgebracht hatte, reichte an seinen Witz und er dachte daran, wie er zu seinem Namen gekommen war. Als junger Soldat war er so schreckhaft gewesen, dass er bei jeder Gelegenheit seinen Degen aus der Scheide gezogen und halbe Tage lang mit der blanken Waffe herum gelaufen war. Seine älteren Kameraden fanden das lustig genug, um ihn damit aufzuziehen. Nach ein paar dutzend Scharmützeln und drei großen Schlachten gegen die Farong, nach tausend Nächten auf Wache saß er jetzt allein in einem Felsenloch und hatte nicht mal den Drang, sich mit einem Knüppel zu bewaffnen. So sehr hatte ihn der Soldatenalltag abgestumpft. Abgestumpft, wie seinen Arm.

Die Nacht verschluckte den Horizont. Im Süden konnte er lichter sehen, die von der zum größten Teil verdeckten Burg herüber schienen. Da oben lebte ein Edelmann mit drei Töchtern, die zusammen mit dem armseligen Städtchen auch schon sein ganzes Kapital ausmachten. Obwohl der Kaiser noch immer Titel und Orden verlieh und Truppen bezahlte, waren die fetten Jahre des Adels längst vorbei. Die Zukunft gehörte den Bürgern und Kaufleuten. Eine Tatsache, die für Blank und andere invalide Veteranen nichts Gutes bedeutete. Die Ablösung von Adligen aufgestellter und aus ihren eigenen Landleuten bestehender Truppen durch Berufsarmeen schlug in dieselbe Kerbe. In alten Zeiten waren die Adligen verpflichtet gewesen, sich um Leute wie ihn zu kümmern und wenn auch nur in dem sie ihnen ab und an Reste von ihrer Tafel in den Dreck warfen oder ein Lagerhaus zum Schlafen zuwiesen. Die Besseren unter den Edelleuten unterhielten Armenhäuser und Spitäler, ihre gelangweilten Frauen spendeten Feuerholz für kalte Winter und beschäftigten Kriegswaisen und Witwen. Das alles hing mit der Religion zusammen. Verpflichtung zur Mildtätigkeit war Teil des Glaubens, auch wenn Gott ein gewalttätiger Mistkerl von einem Vater gewesen war. Blank würde noch nicht mal in einer der Schwefelminen in den Bergen seiner Heimat Arbeit finden. Der Bedarf an dem Teufelszeug war mit dem Siegeszug der Feuerwaffen in die Höhe geschossen und diktierte die Notwendigkeit größtmöglicher Ausbeutung nicht nur der Minen selbst, sondern auch der Arbeiter, die in ihnen bis zum Umfallen schufteten. Ein Krüppel konnte nicht leisten, wozu ein ganzer Mann fähig war, oder ein Junge, der klein und wendig genug war, in die kleinsten Stollen zu kriechen. Womit sollte er Geld verdienen, der nichts anderes gelernt hatte, als Männer in den Kampf zu führen und Feinde zu töten? Selbst was das Betteln anging, waren andere besser geeignet, die mehr als nur eine Hand verloren hatten. Tod und Teufel tanzten in den Schatten an den Wänden der Höhle, während Blank solche Gedanken wälzte. Das Heulen des Windes und das Fauchen des Feuers erweckten ein Echo in der Tiefe des Felsens. dahindämmernden Geistes glaubte Blank darin geflüsterte Worte zu hören, die aber kaum die Schwelle des Sinns überschritten. Etwas von Wiedererkennen und Trauer und Schönheit und Verlust. Er wäre eingeschlafen, hätte ihm ein starker Windstoß nicht Funken ins Gesicht geblasen. Er schreckte davor zurück und war wieder hellwach. Das Echo schwoll an und trug unmissverständlich eine Stimme an sein Ohr.

Der Griff nach dem schweren Holz war ein Reflex. Blank hielt den Scheit mit dem brennenden Ende vorn, während er sich an dem Fels entlangtastete. Er hätte sein Quartier besser gleich erforschen sollen. Was vom Eingang aus wie der Abschluss der Höhle aussah, war nur eine Biegung in dem engen Gang, der sich dahinter weitete und an der gegenüberliegenden Seite in zwei Arme teilte. Unmöglich zu sagen, aus welchem Teil die Stimme kam. Es war eindeutig mehr als nur ein Echo, es sei denn ein Echo wäre fähig gewesen, aus dem Nichts einen dreistimmigen Kanon anzustimmen. Blank glaubte ein Kirchenlied wiederzuerkennen, das seine Großmutter früher gesungen hatte. Die Stimmen waren brüchig und hatten trotz unterschiedlicher Tonhöhen den selben Klang, als ob sie aus nur einem Mund stammten, der zugleich Fröhlichkeit, Trauer und Strenge Ausdruck verlieh. Ohne zu wissen, auf was er sich einließ, ging Blank auf die linke Seite und, da er keinen Grund fand, zu glauben, dass dies die falsche Richtung war, weiter in den Gang hinein. Der Gesang brach jäh ab und seine Quelle begann rasselnd zu keuchen, was sich anhörte, als ob schwere Ketten über Steinboden gezogen würden. ‚Nicht menschlich‘, kam Blank in den Sinn, ’nicht von dieser Welt‘, dazu war der Gesang zu rührend, zu herzergreifend gewesen und war das Keuchen zu tief. Unheimlich und doch von großer Anziehungskraft. Blank folgte seinem Instinkt und setzte beherzt einen Fuß vor den anderen. Der Gang weitete sich zu einem größeren Raum, dessen Boden etwas tiefer lag. Ein weiterer Zugang lag wenige Schritte weiter rechts. Das Fackellicht erhellte nur so viel, dass Blank sicher über eine Schräge des Felsens absteigen und weiter auf das was-es-auch-sein-mochte zugehen konnte. Er bekam dabei von den Ausmaßen seiner Umgebung nur eine ungefähre Vorstellung, glaubte, dass Vorsprünge in den Wänden und Unebenheiten in Boden und Decke den Hohlraum in etwa so formten, wie das innere eines zerdrückten Blecheimers. Darin bewegte er sich mit eingezogenem Kopf und gebeugtem Rücken wie auf der Pirsch. Natürlich gab er mit dem Licht in seiner Hand selbst das Beste ziel ab. Wo das Licht nicht hinreichte, waren die Schatten so undurchdringlich, als seien es solide Gestalten, die unruhig hin und her huschten. Auf dem Boden lagen schwarze Flocken verstreut. Dem Anschein nach war es Asche, die schon einige Zeit lang Feuchtigkeit aufgesogen haben musste. Sie schmierte unter Blanks Stiefeln, kein Staub wirbelte auf. Eine Ebene Fläche und eine Wand. Der Fackelschein beleuchtete einen halb liegenden, halb lehnenden Körper und ein verkohltes Gesicht. Darin glänzte ein himmelblaues Auge, das ihn unverwandt anschaute.

Nicht menschlich, klar und durchdringend. Blank schreckte zurück, konnte sich aber nicht von dem Anblick lösen und leuchtete wieder dorthin. Das Wesen hatte seinen Blick nicht abgewandt und hob eine Hand, mit der Innenfläche nach oben gekehrt, wie ein Bettler, oder wie ein Freund, der seine Hilfe anbot. Nur die rechte Seite von Gesicht und Körper waren verbrannt und rußgeschwärzt. Die linke Hälfte war hell. Weißblondes Haar, das über die Schulter herabfiel, Haut wie aus Porzellan und weißes Tuch, dass sich in schmalen Bahnen an Arm und Bein und Körper schmiegte. Blank war wie vom Schlag getroffen. Der ganze Raum hatte etwas Unwirkliches angenommen, das zugleich mehr als wirklich war, wie der Zeit enthoben, eine Idee von Raum und Form. Nicht fassbar, als läge ein Teil davon außerhalb dessen, was sein armes Menschenhirn erfahren konnte. ‚Du bist schön‘, dachte er, ‚unendlich schön und unendlich traurig‘. Die Rührung trieb ihm Tränen in die Augen. Ein Knoten löste sich tief in seiner Brust und er begann zu schluchzen, ließ das Treibholz fallen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Auf den Knien und zitternd schaffte er es, das Wesen wieder anzuschauen. Die Anmut eines Mädchens mit der Härte eines männlichen Gesichts, Stärke und Zartheit in einem Leib vereint, war es weder Mann noch Frau, sondern etwas Höheres als beide zusammen. Der Ruß und die Asche formten ein schwarzes Bett und bedeckten selbst den Fels im Rücken des Wesens. Noch immer war die Hand ausgestreckt, jetzt berührte ihn der Zeigefinger an der Wange und wischte Tränen davon. Blanks Schluchzen hörte auf und seine Tränen versiegten, so sehr beruhigte ihn die einfache Berührung. Er kam wieder zu sich, stützte sich mit den Händen auf den Fels und atmete tief durch.

„Deine Sorgen haben mich geweckt“, hörte Blank mehr in seinem Kopf als durch die Luft die sanfte Stimme sprechen. Und fragte: „Was bist du?“, obwohl er die Antwort auf diese Frage schon kannte.
„Du musst nicht fragen, was dein Herz schon weiß.“
„Du bist ein Engel.“
„Das war ich einmal. Mein Name ist Mauros.“ Das Wesen ließ die Hand sinken und richtete sich an der Felswand auf.
„Und du bist Tomar Bodin.“
Blank wunderte sich, wie fremd der Name für ihn klang und musste lachen, als er sagte: „Der war ich einmal. Heute bin ich ein Anderer.“
„Blank. Sergeant des kaiserlichen Heeres.“
„Ja, seit vielen Jahren. Tomar gibt es nicht mehr.“
„Weil du nicht mehr an ihn glaubst.“
„Weil ich weiß, dass er tot ist.“
„Er ist hundert Mal gestorben, bis er es schließlich aufgab wieder aufzuerstehen.“
Als wäre Blank unvermittelt in Kontakt mit einem schlafenden Teil seines Ichs getreten, sprach der Engel nur aus, was er selbst nicht in Worte zu fassen vermochte. Blank setzte sich und brachte den Mut auf, in diese fremden, urvertrauten Augen zu sehen.
„Was, wenn es mir genauso schwer fällt, an dich zu glauben?“
„An einen Engel?“
„An einen Engel, der in einer Höhle am Meer sitzt und in die Gedanken von Streunern eindringt.“
„Weil du denkst, dass ich hier fehl am Platze bin.“
„Und was tust du hier?“
„Ich denke und schlafe und lausche dem Gesang der Wellen und des Windes.“
„Du wartest auf etwas.“
„Genau wie du.“
Blank erkannte, dass der Engel recht hatte, er wartete auf bessere Tage und darauf, dass sein Mut zu ihm zurückkehrte, ohne den er sich Frau und Kindern nicht zu begegnen traute.
„Du wartest darauf, dass dein Leben wieder in Gang kommt, dass die Erinnerungen aufhören dich heimzusuchen und dass dir jemand sagt, was du tun sollst.“
„Mein leben ist vorbei.“
„Wenn du nicht wieder damit anfängst, ist es das.“

Er fühlte sich vollkommen entwaffnet und vor der Wahrheit entblößt, konnte nicht anders, als das Gespräch von sich wegzulenken.
„Worauf wartest du denn? Darauf, dass die Flut höher steigt, als sie es immer schon tut?“
„Ich kann nicht ertrinken. Ich kann nicht sterben. Ich bin nicht krank, so wie du. Ich habe nur den Zweck meines Daseins verloren. Dein Zweck war es niemals, nur Soldat zu sein.“
„Aber mein Vater war es und sein Vater auch. Bei der Schlacht von Alaforte hat er einen Engel gesehen. Der lange Stellungskrieg in den Gräben hat die Soldaten beider Seiten verrückt gemacht, hat ihnen so sehr zugesetzt, dass sie die Stimmen der Toten hörten und er war nicht der Einzige, der glaubte, dass ein Himmelsreiter mit Flammenschwert seiner Seite zu Hilfe gekommen sei und ihr den Sieg gebracht hat.“
„Ich erinnere mich daran. Der Engel war Mauros. Und er hat der Seite deines Großvaters tatsächlich zum Sieg verholfen, denn damals kämpfte das Kaiserliche Heer noch für Gott. Genauso wie wir.“
Blank wusste, dass er die Wahrheit hörte. Aus diesen verbrannten, schönen Lippen konnte keine Lüge dringen. „Du. Du hast meinem Großvater das Leben gerettet.“ Eine Feststellung, deren Bedeutung ihn dazu zwang zu überlegen, wie er diesem Veteran des Himmels helfen konnte.
„Bemühe dich nicht. Es gibt keine himmlischen Heerscharen mehr und ich brauche nichts.“
„Komm, ich helfe dir auf.“ Doch der Engel wehrte ab.
„Nein, ich bleibe wo ich bin.“
„Aber…“
„Nichts. Du kannst nichts für mich tun.“
„Aber es muss noch Engel geben. Es gibt doch auch noch Teufel. Die habe ich gesehen. Legionen davon und ihre Barone und Fürsten mit feurigen Augen und der Verdammnis, mit der sie uns schlugen.“
„Das hat nichts zu heißen, nach Gottes Fall hat sich die Welt nur gedreht. Die Hölle ist jetzt oben. Es gibt keine Engel, wenn es keinen Gott mehr gibt, nur seine gebrannten Kinder. Sieh doch, ich habe meine Flügel verloren.“ Damit deutete er über die eigene Schulter und blank begriff, was es mit der verstreuten Asche auf sich hatte. Wieder drängten sich Tränen in seine Augen und trübten seinen Blick.
„Wie viele Generationen sind seitdem vergangen?“
„Generationen? Sechzig Jahre ist es jetzt her.“
„Sechzig Jahre. Das ist nicht viel.“
„Nicht viel Zeit, um in einer Höhle zu sitzen?“
„Nicht viel von einer Ewigkeit. Es ist noch Kraft in mir, aber sie schwindet.“
„Dann raffe dich auf!“
„Das sagst du mir?“
„Ich…“
„Du bist ein Wrack, armer Mensch. Dabei hast du nicht genug Jahre, um sie mit Selbstmitleid zu vergeuden. Für mich gibt es kein neues Ziel, aber du hast die freie Wahl. Das ist es doch, was eure Art besonders macht.“

Die freie Wahl. Die hatte ein Soldat nie. Die Wahl trafen andere. Und wenn nicht Gott, wer dann traf die Entscheidung, wen die Kugeln trafen, wen das Granatfeuer zerriss, wer an Wundbrand verreckte und wer wem mit dem Bajonett den Bauch aufschlitzte, wessen Gesicht entstellt wurde, wer von seinen Kameraden aus Versehen mit Musketen zersiebt wurde, welche Kompanie die Cholera am schlimmsten traf und welches Schiff auf der Überfahrt im Sturm versank? Oder wessen Hand von einem Farongschwert abgeschnitten wurde? Nur eine Hand. Das war gar nicht so schlimm, wie es zuerst aussah. Mit Geld ließ sich da etwas machen.
„Ah, Reichtum. Mehr Geld würde all deine Probleme lösen, nicht wahr? Soll ich dir sagen, wo ein Goldschatz vergraben liegt? Hier vor der Küste, nur eine Meile hinaus, liegt eine Galeone auf Grund, die Gold und Silber geladen hat. Haha! Und jetzt? Wirst du einen Dämon beschwören, der es dir bringt?“
„Du bist grausam! Warum sollte ich das nicht tun? Wenn Gott doch tot ist!“
„Weil es niemals darum ging, ob er euch über die Schulter schaut, das habt ihr euch nur eingeredet. Ich kannte ihn besser als du, da wirst du mir wohl zustimmen. Er hat niemals auch nur versucht, jeden einzelnen Menschen zu kennen und zu beurteilen. Das war auch gar nicht nötig. Jeder von euch hat seine freie Wahl dazu missbraucht, sich über andere zu stellen, bis auf ganz wenige. Diese paar Einzelnen waren die Einzigen, die ihm jemals gefährlich werden konnten und die er von uns strafen ließ. Alle anderen haben immer nur der Hölle als Ablenkung gedient.“
Blank fühlte sich bei diesem Ausbruch so verletzt, als habe er noch einmal seine Hand verloren. Als hätte diesmal eine Klinge aus Eis sie abgetrennt. ‚Du bist wahnsinnig‘, dachte er.
„Du bist wahnsinnig!“ Er schrie jetzt.
„Ja! Das ist es, was uns verbindet! Dass wir nur eins kennen, nämlich zu dienen!“
„Ja, ich diene! Ich bin Soldat!“
Blank spürte Wut in sich aufsteigen, die gesammelte Wut von Jahren und Tod und Verzweiflung. Sie bewegte seinen Arm, er griff nach dem immer noch brennenden Holz und schlug damit auf das himmlische Wesen ein, und noch einmal, so dass Funken stoben und der Engel lachte.
„Du kannst mich nicht töten! Ich kann nicht sterben, ebenso wenig wie er jemals wirklich sterben kann, solange ihn auch nur einer vermisst!“
Die Wut ließ nicht nach, im Gegenteil. Er schlug weiter zu, bis das Holz entzwei brach und er selbst außer Atem geriet.
„Ich sagte dir doch, ich habe noch Kraft“, brachte der Engel unter Lachen hervor und fasste Blanks Kopf mit beiden Händen, schaute ihm direkt in die Augen, so dass Blank in dem Blau zu versinken glaubte. „Ich habe noch Kraft, um dich zu heilen!“

Ein kalter Schock fuhr durch Blanks Schädel und sein Rückgrat entlang, durchdrang Brust und Glieder bis in die Knochen. Blank schrie voller Schmerz und spürte dann, wie der Schrei ihn von seinem Körper trennte, wie der Schrei seine Wut einem Steppenbrand gleich auffraß, wie schließlich der Schrei ihn seines Leidens beraubte. Er sank zurück in seinen Leib, fand sich ruhig, in Frieden und von allem Gewicht befreit. Er saß lange so da. Die leere anstelle seines Zorns füllte sich mit jedem Atemzug neu mit Lebendigkeit und Zuversicht. Der Engel lächelte jetzt. Dann stimmte er wieder das Lied an, das er zuvor schon gesungen hatte. Die Strenge in seiner Stimme war Sanftheit gewichen und die Fröhlichkeit überwog die Trauer. In seinem Gesang leiser werdend, schlief er ein und nur das Echo setzte den Kanon fort. Tomar sah jetzt, dass neben dem Engel ein Schwert lag, das ebenso wie die Hälfte seines Körpers verbrannt war. Damit hatte er einmal einen Krieg geführt, zur Ehre seines Herrn. Jetzt lag es zerstört und nutzlos auf dem Höhlenboden. Es war nur ein Werkzeug, dessen Zeit Vergangenheit war. Als seine Glieder aus ihrer Ruhe erwachten und Tomars Geist wieder den Klang von Wind und Wasser bemerkte, stand er auf und verließ den Raum, verließ auch, obwohl es noch Nacht war, die Höhle und wanderte am Strand in Richtung Norden. Der Weg, dem er folgte, war jetzt gerade.

Die Nacht war klar und voller Sterne. Tomar schaute in die funkelnde Pracht und machte sich Gedanken über das verwaiste Himmelreich. Kein Gott und keine Engel, ein Reich ohne Herrscher und Armee. Seine übrigen Bewohner sich selbst und ihrer Vorstellungskraft überlassen. Und eine Erde die den Teufeln gehörte und einer Menschheit die, ob willens oder nicht, um ihr eigenes Wohl würde streiten müssen. Viele Tränen mischten sich mit dem Staub auf seinen Wangen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so klar gefühlt und so freien Zugang zu seinem Wesen gefunden. Beinahe, als ob sich der Himmel in ihm spiegelte. Der Engel mochte sein letztes Wunder an ihm getan haben. Aus Verbundenheit oder Schuld? Hatte er damit Tomar eine Schuld aufgeladen? Wenn ja, dann doch nur die, die jeder Sterbliche seit seiner Geburt trug, die er zwar nicht unbedingt anerkennen musste, um die er aber doch tief im Herzen wusste. Sei frei, handle beherzt und nimm dein Geschick in die eigenen Hände. Wenn nötig auch in die eine Hand, die dir geblieben ist. Eine Amputation war nicht das Ende aller Dinge. Auf einmal war Tomar froh, noch alle Sinne bei einander zu haben und spürte eine Kraft in sich, die unter Pflichterfüllung und Furcht seit Jahren nicht hatte atmen können, sich darum nicht bemerkbar gemacht hatte und die doch die ganze Zeit über in ihm gewesen war. Wie wenig man sich doch kannte. Wie sehr man sich verkannte, wenn man nicht sein eigener Herr war. Die Bewegung hielt warm, obwohl der Wind aus Richtung der See stechend kalt und unermüdlich herüber wehte. Er ging bis zum Morgen. Als die Sonne von Osten das Wasser in einen gleißenden Spiegel verwandelte, erreichte Tomar ein Fischerdorf. Der letzte Kutter, der hinausfuhr nahm ihn als Helfer für den Tag mit an Bord. Tomar arbeitete so gut er konnte und die Fischer waren mit seiner Leistung zufrieden. Sie tauschten den Tag über Geschichten aus. Dabei stieß Tomar in seinen Erinnerungen auf vieles, das sich einfach erzählen ließ. Nicht alles was er in den letzten Jahren erlebt hatte war schrecklich und grausam, aber selbst dann, wenn er von seinen Schlachten berichtete, stürzte ihn die Erinnerung nicht wieder in die Verzweiflung.

Solange Tomar an der Küste entlang nach Norden wanderte, nutzte er jeden kleinen Hafen und jedes Dorf um sich Arbeit zu suchen. Da er nicht mehr nur als Bettler auftrat und seine Stärke mit jedem Tag und jeder verdienten Mahlzeit wuchs, er seine Narben jetzt mit dem Stolz des Lebendigen trug, begegneten ihm die einfachen Leute anders. Nicht mehr mit Abscheu oder leerem Mitleid, sondern fasst mit so etwas wie Wohlwollen und Ehrfurcht. Als er Andere wie sich selbst auf der Straße antraf, die in dieselbe Richtung wollten, ergab es sich, dass sie gemeinsam gingen. Zuerst zu zweit und später zu sechst stärkte die Gemeinschaft jeden Einzelnen. Tomar nährte in sich ein Feuer, dessen Wärme und Beständigkeit mit der Zeit Funken von Zuversicht in seinen Begleitern anzufachen begann. Wenn er davon sprach, dass die Tage des Dienens vorüber waren und ihre Zukunft ein unbeschriebenes Blatt war, dass sie selbst in der Hand hätten, was daraus wurde, wussten seine Gefährten, was er meinte und stimmten ihm zu. Vier von ihnen entschieden sich, ihm in seine Heimat zu folgen. Drei Monate nach seinem Landgang in Holstatt erreichten sie die Bergmannssiedlung, in der Tomar aufgewachsen war. Bodins lebten hier seit vielen Generationen. Zuallererst führte Tomar seine Leute in das größte Wirtshaus und hielt dort eine Rede. Er sprach vom Krieg in Übersee und von seiner Heimkehr und davon, dass jeder von ihnen ein Recht auf die Arbeit hatte, die er leisten konnte. Erst als jeder seiner Gefährten einen Platz an einem der Tische gefunden und ein Bier und zu Essen vor sich stehen hatte, ging Tomar nach Hause zu seinen Kindern und seiner Frau. Sein Sohn und eine Tochter, die er zum ersten Mal sah, schauten ihn mit großen Augen an und Alba war so schön und so warm, wie in seiner Erinnerung.

(C) Tobias Reckermann 2014

Veröffentlicht von

Tobias Reckermann

Schriftsteller Mitarbeiter bei Whitetrain