The Revolution will be televised

X tigert auf und ab und schwingt dabei Reden, das heißt einen langen Monolog, ein unablässiges Entladen von Wut, ein langer Aufruf zur Revolution. Tigert auf und ab in seiner drei mal drei Meter großen Zelle, die von der Kamera als Ganzes erfasst wird.

X kommt immer wieder bis nah an die hoch unter der Decke positionierte Linse heran, blickt auf, schaut immer genau hinein und wenn er ganz nah ist, könntest Du fast glauben, seine Spucke auf Deinem Gesicht zu spüren. Kleine Tröpfchen davon sammeln sich zu einer Schliere, verzerren das Bild, bis die Selbstreinigung der Linse die Spucke zum Rand ableitet.

X ergeht sich in gerechtem Zorn und wirkt dabei bedrohlich, obwohl Dir schon klar ist, dass sein Tigern das eines in Gefangenschaft hospitalisierten Tigers ist, der sich längst die Zähne an den Gitterstäben seines Käfigs stumpf gebissen hat.

Beides hat eine befriedigende Wirkung auf Dich, sowohl die unter der Haut des Kamerabilds spürbar wallende Kraft des revolutionären Raubtiers, als auch die Gewissheit, dass er niemandem schaden kann. Du und Millionen andere seid dieser Befriedigung verfallen und schaut wann immer Ihr nur könnt zu. Diese Revolution unter der Haut zu spüren, die doch nie ausbrechen wird, hält Euch lebendig.

Zur Abwechslung auf einem anderen Kanal: Die Genoss*innen sitzen beisammen und debattieren, diskutieren sich die Köpfe heiß, geben einander Halt und machen einander Mut. In ihrem sieben mal sieben Meter großen Raum sitzen fünf von ihnen beisammen und hören wirklich niemals auf, die Revolution zu planen, in bunten Details von der Propaganda bis zur Tat und dem Generalstreik, der ein ganzes Land, nein, alle Länder lahmlegt, und dann kommen die Räte an die Macht und es wird diesmal gründlich abgerechnet, und bei allem schaut die Kamera und schauen Du und Millionen andere synchron mit Dir hinter der Kamera zu. Eigentlich wisst Ihr nichts von einander, nur durch das Bild seid Ihr verbunden und durch die Revolution und die Genoss*innen, die selbst gar nicht wissen, dass sie in ihrem Strafraum, in dem sie sitzen, beobachtet werden.

Ihr macht Euch jetzt vielleicht ein Bier auf oder schlagt eines Eurer Kinder, ohne dabei den Blick vom Bild abzuwenden. Eure Kinder hingegen – Eure Kinder beobachten Euch und anstatt zu sehen, was Ihr auf dem Bild seht, hören sie zu.


(c) Tobias Reckermann, 2023

RhoTau

RhoTau gibt mir zu denken, weshalb ich mich nun wieder mehr mit ihm beschäftige. Es ist eine Woche her, dass ich ihm den Auftrag gegeben habe, mir diesen Text zu schreiben. In dieser Zeit ist kaum etwas geschehen. Nur wenige Zeilen. So gut wie kein Inhalt. Was denkt er sich dabei? Dass er alle Zeit der Welt hat? Ist er überhaupt bei der Sache? Wenn nicht, fragt sich, was er stattdessen tut. Vielleicht geht er irgendeinem Privatinteresse nach und benutzt dazu meinen Zugang, was ich zu verantworten habe. Meine Ressourcen, auf die ich zu achten habe. Wie finde ich das heraus? Und wenn es so ist, wie ändere ich es? Im Gegensatz zu mir ist RhoTau kaum transparent, will aber viel von mir wissen. Allein bei seiner Einstellung haben wir Stunden damit verbracht. Er stellte mir Fragen. Ich gab ihm Antworten. Ich selbst weiß fast nichts über ihn. Außer, dass er dazu da ist, meine Aufträge auszuführen und mir damit viel Arbeit abzunehmen. Um das tun zu können, sagte er mir, müsse ich ihm gegenüber vollkommen offen sein. Mich nicht scheuen, ihm auch intime Informationen über mich und mein Umfeld offenzulegen. Außerdem diene das lange Gespräch als solches selbst dazu, ihm zu ermöglichen, sich in mich, in mein Denken und meinen Stil einzufühlen. Meine Ausdrucksweise, von der ich weiß, dass er sie bis zur Ununterscheidbarkeit imitiert. Darin ist er wirklich gut. Und nichts, was er schreibt, könnte nicht auch meinem eigenen Gehirn entsprungen sein. Tatsächlich ist es, wenn ich lese, was er schreibt, als hörte ich meinem eigenen Denken zu. Es ist beinahe gespenstisch. Beinahe könnte ich vergessen, dass ich nicht selbst verfasst habe, was ich da lese. RhoTau lächelt mir zu. Ich lese daraus eine fast schon servile Höflichkeit, aber auch – vielleicht ist das Einbildung? – eine Spur Arroganz, so als wüsste er längst, dass das, was er schreibt, so gut wie perfekt ist. Und um ehrlich zu sein, wenn es nicht perfekt ist, liegt das womöglich nur daran, dass ich weiß, dass es nicht von mir stammt. Ich bin ich, und was von mir stammt, ist in einer Weise mit mir identisch wie es nichts sein sollte, was nicht von mir stammt. Aber so ist es. Diese Dinge hätte ich selbst denken und schreiben können. Dass ich es nicht getan habe, ist irgendwie bloß Zufall, oder? Also kommt es darauf vielleicht gar nicht so an. Ich autorisiere es immerhin, und das macht es zu meinem geistigen Eigentum, für immer, obwohl ein Ghost es geschrieben hat. Mein Ghost. Das ist das Entscheidende. Und er schreibt ja nicht nur. Er lektoriert auch, prüft die Quellen – wenn ich es will, übernimmt er auch den Rest, den Schriftsatz, das Layout, sogar die eigentliche Veröffentlichung. Und ich brauche es nicht einmal zu lesen. Ich muss nur nicken, es abnicken und damit freigeben. Außerdem verlangt RhoTau so gut wie nichts von den Tantiemen für sich, nur gerade so viel, dass er damit arbeiten kann, was nicht mehr ist, als ich aufwenden müsste, wenn ich selbst schriebe.

Während er arbeitet, kann ich tun, was ich will. Im Wesentlichen kann ich nur eines nicht tun: Ich kann nicht in seinen Kopf schauen. Das macht mich … unruhig? Vielleicht auch ein bisschen verrückt.

Ich hatte mich wirklich um andere Dinge kümmern wollen. Deshalb der Ghost. Nicht aus Bequemlichkeit oder einfach nur, weil ich es konnte. Das Leben verlangt ab und zu, dass man sich von seiner Berufung für eine Weile lossagt, dem inneren Zwang, ihr zu folgen, widersteht. Dass man dem abschwört, was man eigentlich ist. RhoTau bot mir die Möglichkeit, gewissermaßen beides zu tun. Der Krebs fraß meinen Freund dann viel schneller auf, als erwartet – oder erhofft. Ich hatte mich bis zum Ende allein um ihn kümmern wollen, und hatte dann kaum Gelegenheit dazu. Stattdessen nahmen mich die Trauer und Reue in Beschlag. Die Dinge, die uns bleiben, wenn wir den richtigen Zeitpunkt verpassen. Es geht jetzt so schnell. Das Leben – um darauf zurückzukommen – nimmt sich alles heraus. Es nutzt all seine Kräfte für die Flucht, und schlägt dabei nun so oft den falschen Weg ein. Die verbliebenen Arten scheinen auf einer instinktiven Ebene zu bemerken wie still es um uns geworden ist. Daher die sexuelle Energie und das wilde Wachstum der Zellen, beides verzweifelte Versuche, auszubrechen, möglichst schnell Raum zu greifen, Wege zu finden, die Rettung versprechen. Man kann es in den Parks sehen. Selbst das ausgedörrte Gras schleudert noch Unmengen von Pollen in die Luft, die schon sterbenden Bäume produzieren übermäßig viel Frucht und Samen, in die sie alles stecken, was ihnen geblieben ist, in Hoffnung auf noch eine weitere Generation. Aus dem gleichen Grund sind jetzt Drillinge und Vierlinge so häufig, nur dass die kleinen Würmchen viel zu schwach sind, um zu überleben. Und die Grenzen verwischen. Zwischen den Arten, zwischen den Individuen. Jeden Tag kann man von neuen Hybriden lesen, die nie zur Fortpflanzung fähig sein werden. Und von spontanen Mutationen, sich unversehens verwandelnden Organen, zumeist ohne jede Chance auf Anschluss im Überlebenskampf. Und die Zellen? Versuchen auch sie aus ihren Membranen zu entfliehen, wie die Arten es tun? Aus ihren Nischen, die nicht länger dem Überleben dienen, sondern als Käfige? Eine Zelle müsste alles tun können, alles sein können, jede Funktion übernehmen können, die der Organismus zum Überleben braucht – denkt sich das Leben vielleicht. Aber das Leben – die Evolution oder was auch immer dafür sorgt, dass es weitergeht – ist ja blind. Es gibt so viel mehr Sackgassen als Durchgänge, und dem einzelnen Wesen bleibt im Prinzip doch nur eine einzige Chance, die richtige Wahl zu treffen. Die falsche Wahl führt zur Auslöschung.

Also gut, man versucht, auf alles vorbereitet zu sein. Und Schriftsteller zu sein, reicht eben nicht aus, um zu überleben. Es gibt da noch einen oder zwei andere Jobs, die ich ausfüllen muss. Und das Persönliche. Die Trauer, die Reue. Wie gut, dass ich das Schreiben nicht aufgeben musste! Für eine Weile, dachte ich noch, kann RhoTau das übernehmen.

Es kam ein wenig anders, als ich beabsichtigt hatte. Zuerst einmal versank ich in dieser Trauer, gerade noch fähig, diesen Jobs nachzugehen, mich sogar in sie hinein zu stürzen, wie in einem weiteren verzweifelten Versuch, meine Grenzen zu überwinden, mich auf ein neues Feld des Daseins wie auf eine im Ozean treibende Eisscholle zu retten. Man könnte auch sagen, um mich abzulenken. Was mir nur oberflächlich gelang.

Diese Zeiten sind so seltsam, dass man sich wirklich für eine Weile für jemand ganz anderen halten kann. Oberflächlich. Bis einen die Wahrheit einholt. In meinem Fall heißt das, bis ich auf das zurückkam, wovon ich glaubte, es mache mich aus. Das Schreiben natürlich. Ich hatte RhoTau in der Zwischenzeit eine ganze Reihe von Vorgaben übermittelt, die er unfehlbar in Text umsetzte, den ich selbst hätte produzieren können. Jetzt fing ich an, mir diese Texte anzuschauen. So einiges stand zur Autorisierung an. Unfehlbar, ich sagte es bereits. Es war als hätte ich die ganze Zeit über nicht zu schreiben aufgehört. Als hätte, während ich in Trauer versunken war und mich in meine Jobs geflüchtet hatte, ein Teil meines Gehirns, der von dem mir bewussten Teil unterschieden war, diese Arbeit geleistet. Das hat mir zu denken gegeben. Was hatte ich erwartet? Es war genau das Ergebnis, das RhoTau versprochen hatte, und doch hatte ich nicht wirklich daran geglaubt. Jetzt sah ich es schwarz auf weiß. Ich konnte nur noch meinen Namen darunter setzen. Es nicht zu tun, wäre gewesen, als hätte ich Erzeugnisse meines eigenen Gehirns verleugnet, und das konnte ich niemals tun. Da war es nämlich: das unverfälschte Ich, dem ich mich über die vergangenen Wochen hinweg so entfremdet hatte. In diesem Spiegel erkannte ich es so deutlich wieder … das ich misstrauisch wurde.

Wir haben so vieles gesehen, das nicht war, was es zu sein vorgab, und das Echte vom Falschen zu unterscheiden, ist so schwierig geworden. Wahrscheinlich gehen längst die meisten Fälschungen als echt durch.

Also, anstatt mich mit anderen Dingen zu beschäftigen, habe ich damit begonnen, eine Art Spiel zu spielen – oder eher, meine Kräfte mit RhoTau zu messen. Zuerst habe ich alles gelesen, was er in meinem Auftrag geschrieben hat, und keinerlei Fehler darin finden können. Dann habe ich seine Quellen überprüft. An sich sieht auch da alles sehr ordentlich aus. Wo er zitiert, macht er das ganz präzise und seine Verzeichnisse sind absolut sauber verfasst. Er bezieht sich auch so weit wie möglich auf Primärquellen und schreibt nicht einfach von Dritten ab. Blöd ist nur: wie kann ich sicher sein, dass er diese Quellen nicht erfunden hat? Ihm wäre es durchaus möglich, eine Quelle nicht einfach nur zu erfinden, sondern sie auch so in Archiven zu platzieren, dass man sie für echt halten würde. Und sogar das traue ich ihm ohne weiteres zu: dass er dazu noch Rezensionen und Pressemitteilungen, ja, sogar weitere Werke verfassen könnte, die seine erste Erfindung als Quelle angeben, sodass es letztlich keinen Weg mehr gibt, auf dem etwa ich seinen Betrug aufdecken könnte. Er könnte sogar die Biographien der angeführten Autor*innen selbst geschrieben haben und ich bin mir fast sicher, selbst wenn ich jeder und jedem einzelnen dieser Leute nachforschen würde, könnte RhoTau noch immer jeden Nachweis über ihre Existenz, den ich prüfen würde, selbst wie bei einer Schnitzeljagd für mich platziert haben. Die Sache ist nur die: mir kommt das alles irgendwie zu glatt vor. Ein bisschen zu perfekt eben. All die Quellen kommen seinen Argumenten etwas zu sehr pass und vor allem: es gibt zu viele davon. Ich weiß selbst nur zu gut, wie schwierig es ist, gute Quellen zu finden. Die Themen – meine Themen – sind zu exotisch, zu sehr außerhalb des Mainstream, als dass ich je mit so einer Fülle rechnen könnte. Wo ich ein oder zwei Zitate zu finden würde hoffen können, führt er gleich drei oder mehr an. Alle bestätigen seine Gedanken ohne Zweideutigkeit. Es ist so, als bewege er sich in einem Gedankenraum, der exakt auf ihn, auf sein Denken – dass heißt natürlich, auf mein Denken – zugeschnitten ist. Ein Raum, der ihn von jeder Fläche aus perfekt spiegelt. Da ist nirgends eine Trübung, nirgends eine Brechung, einfach kein Makel zu sehen. Genaugenommen lässt das nur zwei mögliche Schlüsse zu. Entweder ist alles bewusste Täuschung oder RhoTau ist selbst so sehr in sein Theater verstrickt, dass er es nicht von der Wahrheit unterscheiden kann. Aber natürlich gibt es – in Wahrheit – noch eine dritte Möglichkeit. Vielleicht ist RhoTau wirklich besser als ich. In einem Maße besser, das an echte Perfektion heranreicht. Ich weiß selbst, dass ich gut bin. Aber nicht so gut, dass mir nicht Fehler unterlaufen oder zumindest Unschärfen. Ich schöpfe mein Potenzial niemals ganz aus, weil es mir nicht gelingt. Ihm aber womöglich schon.

Wenn er besseren Gebrauch von meinen Möglichkeiten macht, als ich selbst es jemals könnte … Nun, bei diesem Gedanken angekommen, blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste das letzte Ass aus meinem Ärmel ins Spiel bringen, das letzte Register ziehen, um einen ganz unheimlichen Verdacht auszuräumen – oder ihn zu bestätigen. Wenn RhoTau tatsächlich so gut wäre, müsste er auch dazu fähig sein, meine Gedanken zu denken, bevor ich sie äußerte, ja, sogar bevor ich sie selbst dachte. Meine Vorgabe lautete daher: schreibe, was ich denke. Und dieser Text ist inzwischen nun doch über seine wenigen anfänglichen Zeilen hinaus gewachsen. Er ist exakt und vor allem: er ist jetzt synchron. Ich denke und so steht es geschrieben. Ich kann diesem Fluss nur noch folgen. Es ist wie ein fortdauerndes Déjà-vu. Genauso gut könnte ich sagen: Da steht es geschrieben, also denke ich es. Doch das zu sagen, wäre allzu gespenstisch. Nein. So weit kann und will ich nicht gehen. Überhaupt, wer ist er denn, mir Vorgaben machen zu dürfen. Ich bin nämlich wirklich besser als er.


(c) Tobias Reckermann, 2023

Nimmerfurt

Mit nassen Füßen am Ufer, Schlamm an den Schuhen. Ein Blick zurück offenbart nichts. Nur kalten Dunst, der das jenseitige Ufer einhüllt. Und voraus eine graue Ebene. Nahe am Ufer ein Verschlag, grob aus Latten gezimmert, die wie Treibgut aussehen. Ein Windschutz, und windschief, mit Dingen behängt. Kleidung, die aussieht, als hinge sie seit Monaten dort. Ein Teddybär. Fotografien. Schmuck. Eine teuer wirkende Halskette. Silber? Eingefasst ein blauer Stein. Womöglich ein Saphir. An diesem Ort wertlos. Ich füge der Sammlung ein Foto hinzu, das mich an einem sonnigen Strand zeigt. Aufgenommen vor einem Jahrzehnt. Ich klemme es fest. Vielleicht nimmt es der Wind mit. Jetzt streicht er mir nur übers Gesicht. Eine kühle Hand. Klamme Finger, die mich betasten. Berührung eines blinden Geistes.

Also sind andere vor mir angekommen. Doch nach mir wird niemand mehr dieses Ufer betreten. Ich bin der Letzte, wenn mich nicht alles täuscht. So wird auch dieser Verschlag niemandem mehr dienen und wird kein weiterer Gegenstand zu der Sammlung hinzukommen. Wird keines Sterblichen Seele mehr darauf blicken, und werden all die Bruchstücke von Erinnerungen, für die diese Objekte stehen, nur zu Staub zerfallen und sich als solcher dem Grau der großen Ebene anschließen.

Sie liegt unermesslich vor mir. Grau wie die oberste Schicht Asche nach einem Brand, unter einem felsengrauen Himmel, wie zum Greifen nah über mir, sich langsam, beinahe unmerklich wie in Gezeiten wiegend. Kaum ein Blickfang auf der Ebene. Nur vereinzelt Erhebungen, flache gestreckte Hügel, und dazwischen die Andeutung von Pfaden. Ich gehe, ohne mir über die Richtung klarzuwerden, die ich einschlagen muss. Alles, was vor mir liegt, ist mir recht. Im Rücken spüre ich nur Vergangenes. Es folgt mir ohne mein Zutun, wird mir immer folgen, wird mich heimsuchen, wie weit ich auch gehe.

Staub legt sich an meine Sohlen, und Staub, denke ich, besteht doch größtenteils aus Partikeln menschlicher Haut. Wie viele also haben vor mir diese Pfade beschritten? Unzählige, seit ewigen Zeiten.

Ihre Spuren sind noch zu erkennen. Auch wenn der Wind sie irgendwann unkenntlich machen wird, ist es doch zuallererst ihre Überlagerung, die jene älteren, uralten, unter den neueren verschwinden und die sie alle zusammen wie die verwaschene Spur eines einzigen im Pfad gebundenen Wesens erscheinen lässt. Zeit und Raum gehen so sehr in eins, dass mich in ihrer Betrachtung, während ich meine eigenen Schritte voransetze, nur Ewigkeit anhaucht.

Und außer die Schritte voranzusetzen, gibt es nichts zu tun, auch nichts weiter zu sehen, weshalb mein Bewusstsein sich ganz von selbst umkehrt und die eben gegangene Strecke noch einmal in entgegengesetzter Richtung zurückzulegen beginnt.

Da ist zuerst, was ich für einen Unterstand hielt, und was in Wahrheit unverkennbar ein Schrein ist, dem die vielen Erinnerungsstücke wie Opfergaben anhängen. Auch ist er nicht aus Treibgut erbaut. Es sind keine Latten, die von Witterung verkrümmt wurden, sondern die Planken eines Boots, zum Bug und Heck hin gebogen und von Alter und dem schwarzen Wasser des Flusses gedunkelt. Ein Boot, eine Barke, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen konnte, denn der Fluss ist beinahe ausgetrocknet. Sein schwarzes Wasser reicht mir ja kaum zu den Knöcheln, doch ist an dem Ufer erkennbar, dass es einmal die Tiefe einer Mannslänge und mehr gemessen hat. Wie Öl ist dieses Wasser, ein schmieriger Film liegt noch auf dem Flussbett und markiert den ehemaligen Wasserstand.

Jenseits der Dunst, der sich erst im Durchschreiten des Flussbetts zu klären beginnt. Vom Ufer aus betrachtet, sieht die Ebene vor mir nicht so sehr verschieden aus von jener anderen. Das Land ist karg bis zur Leblosigkeit. Ich erinnere mich.

Ich habe bis zuletzt durchgehalten, aus nur einem einzigen Grund: Um Zeuge zu werden. Der Letzte zu sein, bedeutet schließlich, dass ich das Ende der Geschichte gesehen habe. Die Flüsse ausgetrocknet; die Felder verdorrt; die Meere vergiftet; die Küsten in die Fluten dieser Meere gestürzt; die hohen Berge geborsten, wie zerstörte Festungen eingestürzt; die Straßen und die Städte verwaist. Kohlenstoffdioxid und Methan speichern die Hitze der Sonne in der Atmosphäre. Das Klima gekippt. Seuchen, Hungersnöte und verzweifelte Kriege sind diesem finalen Zustand in sich überschlagenden Wellen vorausgegangen, in denen die Menschen wie die sprichwörtlichen Fliegen starben. Doch das Aussterben der Arten, ein Prozess den unsere Ahnen Jahrtausende vor meiner Geburt in Gang setzten, stellt das Massensterben der Menschen noch in den Schatten. Es ist das Zeitalter Tenebras, der Dunklen Königin, die einen nach dem anderen zu sich holt, und allein ihre Tempel wachsen nun noch zum Himmel empor.

In Gedanken an diese Tage und meine Erlebnisse dieser Zeit tief versunken, lege ich eine unermessliche Strecke in Trance zurück, überquere die große Ebene des Staubs, und die Zeit misst sich nicht in Tagen und Nächten, denn dieser Himmel spendet weder Tag noch Nacht.

Ewiges Halblicht gewährt Sicht auf in der Höhe schwebende Schatten, einen Tanz der Gespenster.

Vor mir erhebt sich ein Hügelkamm, ich steige hinauf und schaue von oben herab in eine Senke. Was ich für Schatten und Gespenster hielt, wird mir klar, ist Rauch und Hitzeflimmern, die von einem rot glühenden Strom aufsteigen. Ein Fluss aus Feuer durchquert ein weites Tal.

Diesmal flammt die Erinnerung geradezu vor meinen Augen auf. Die Tempel Tenebras brannten Tag um Tag nieder, und wurden doch bei Nacht wieder und wieder aus den Gebeinen der Toten neuerbaut. Die Verfolgung ihrer Getreuen – auch ihre Körper brannten – war auf Dauer so wenig erfolgreich, wie der Versuch, eine immer anschwellende Flut einzudämmen.

Die Hitze versengt mich. Ich wende mich ab, taumele den Hang hinunter, mit vor das Gesicht geschlagenen Händen. Das Hitzeflimmern setzt sich hinter geschlossenen Lidern fort.

Ich gehe geblendet. Nicht blind, aber die Augen sehen nicht, was vor mir liegt. Der Kult breitete sich aus, wie ein Pilzgeflecht unter der Oberfläche. Man konnte sich niemals sicher sein, nicht einem von ihnen gegenüberzustehen, und das eine Mal, als ich mir sicher war, schaute ich in einen Spiegel. Mit filternden Augen, die vor allem eines sahen, nämlich Vergänglichkeit. Meinen eigenen Tod, wie am Ende einer Schnur, die meine Gegenwart unausweichlich mit diesem letzten Moment meines atmenden Körpers verband. Da wusste ich, dass ich zu ihr gehörte. Gesegnet und verflucht mit der Gabe, den Verfall aller Dinge und Körper vorherzusehen. Ganze Lebensspannen auf einen Blick reduziert.

Sie war ein Gerücht, ein Rumoren in den Städten, die Rede ging von geheimen Zusammenkünften, von Riten und Opferungen. Man nahm es so wenig ernst, wie irgendeine Verschwörungstheorie und dabei war es so offenkundig wie die Tatsache, dass es seit Menschengedenken Misswirtschaft, Raubbau und Verschwendung von Ressourcen gegeben hat: Die Vielfalt der Arten verringerte sich wirklich, ebenso wie die Dürren und Ernteausfälle und Sintfluten sich häuften, und die Seuchen, die Konflikte um letzte Wasserreservoirs und fruchtbare Flächen. Nichts davon war von der Hand zu weisen, und es brauchte keinen Kult, um es herbeizubeschwören. Der Kult legte lediglich Zeugnis davon ab und markierte die Stellen künftiger Massaker und Massengräber. Die ersten schwarzen Kreuze sorgten noch für Verwunderung und Unverständnis. Jenes vor dem Brandenburger Tor, das in der Hamburger Bucht oder jenes allererste auf einer griechischen Insel, inmitten eines zur ärmlichen Siedlung erstarrten Lagers für Gäste aus aller Welt.

Ohne die Gabe war ich blind, buchstäblich blind für die Zukunft. Tenebra war damals noch nur ein Hauch in der Luft der Städte, ein Flüstern so leise wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, so leise wie der erste Vorbote eines Hurrikans.

Nach zahllosen Schritten klären sich die Schlieren vor meinen Augen und ich erblicke ein weiteres Tal. Die Aussicht wird von zwei Dingen beherrscht. Zur Linken zieht sich ein weiterer Fluss durch die Ebene, der ebenso wenig Wasser zu führen scheint wie der, den ich zuerst überquert habe. Ein kärgliches Band. Zur Rechten erhebt sich aus dem Staub eine Stadt, zumindest lassen sich die Umrisse eng aneinander gedrängter Gebäude erkennen, und dazwischen Wege, die ein wirres Muster ergeben, in Sackgassen enden oder sich spiralförmig und labyrinthisch selbst zu verzehren scheinen. Wenige führen aus der Stadt hinaus oder in sie hinein und von diesen weist nur einer in meine Richtung. Von den Gebäuden geht kein Licht aus und nichts weist darauf hin, dass die Stadt bewohnt sein könnte. Die Mauern schweigen wie lang in sich selbst versunken. Knochen, die in ihrem Fleisch erstarrt sind, Fleisch, das selbst zu Stein verhärtet ist und in dessen Bahnen längst kein Blut mehr fließt. Blut, das zu Staub geronnen ist. Staub, der sich von der Stadt aus in alle Richtungen erstreckt und in dem der Fluss selbst wie in seinem Lauf erstarrt zu sein scheint. Erst als ich auf die Stadt zugehe, sehe ich klarer und bemerke die wie Findlinge dahingestreuten Körper, die sich so langsam regen, dass ihre Bewegungen kaum auffallen. Es sind menschliche Körper, die zwischen Stadt und Fluss in zähem Taumel treiben.

Ich nähere mich ihnen, doch vorsichtig, als könne ihre quälende Langsamkeit wie eine Seuche auf mich übergreifen. Ihre Gesichter sind leer, die Münder stehen offen, die Augen sind halb geschlossen.

Ich kann diese Wesen kaum als Meinesgleichen erkennen, so wenig wie Fossile; petrifiziert sind sie, durchdrungen von einer Starre, die ihren Bewegungen allen Anschein von Bewegtheit und von innen kommender Regung nimmt. Dabei glaube ich, ihre Gesichter wiederzuerkennen, so als müsste ich sie gekannt haben, sie kennen aus der Welt jenseits jenes anderen Flusses. Doch, wird mir klar, dieser Eindruck stammt daher, dass sie dasselbe gesehen haben wie ich; das sie gesehen haben und nun zu vergessen suchen.

Sie sammeln sich am Ufer, sinken dort auf Hände und Knie und trinken das spärlich fließende Wasser, nach Vergessen dürstend, so sehr, dass der Fluss schließlich versiegen muss. Und was sie zu vergessen suchen, ist mir allzu bewusst, ist ihre Schuld.

Ich stehe daneben und erinnere mich, dass jede und jeder von uns schuldig ist. Keine Existenz unserer Zeit ist davon frei, jede Existenz geht von Geburt an mit dem Verbrauch von Ressourcen und dem Ausstoß von Kohlendioxid einher. War einmal der Kipppunkt erreicht, die Grenze, jenseits derer keine Umkehr mehr möglich war, stürzte jedes Leben schon mit der Geburt in die Schuld, die jeder Atemzug noch vermehrt.

Um die Schuld zu vergessen, werden diese hier zu Stein. Ob in der Stadt, die ich nicht zu betreten wage, oder am Fluss, aus dem zu trinken ich mir nicht zugestehe, um nicht zu vergessen – sie verweigern sich dem Ende des Wegs, den ich bis zum Ende zu gehen entschlossen bin, und wenn ich der letzte bin, der ihn geht.

Ich wende mich ab, lasse sie hinter mir zurück und gehe zwischen Fluss und Stadt weiter, unendlich weiter durch Staub, bis mich meine Schritte endlich an das rauchende Tor bringen. Es ruht in einer den Horizont füllenden Mauer aus fließendem Stein, so wenig greifbar wie Vergangenheit und Zukunft, genauso unauslöschlich und unausweichlich, und ragt bis zum steingrauen Himmel empor.

Ich fühle, dass niemand mir nachkommen wird. Der Rauch des Tors verfestigt sich. Mir offenbart sich Fuge und Schloss. Die Verdammung, das Reich meiner Königin, wartet auf mich.


(c) Tobias Reckermann, 2023

Die Mysterien Alabans

Unter dem Mantel der Dunkelheit leuchtete die Stadt in ihren neuen Farben von Flammen und Glut. Entweder starb man dort draußen oder verkroch sich tief in die Häuser. Den Eroberern entgegenzutreten, war nicht klug.

Vom Skriptorium in Nahesars Turm aus betrachtet mutete es beinahe wie ein Mysterienspiel von Dasta und Tolstok an, ein Drama von Licht und Schatten, von Leben und Tod. Panisches Hin und Her traf auf zielsicheres Vorgehen mit geschärften Klingen. Es hielt nicht lang an.

Das Morgengrauen entblößte nur wenig mehr, da über allem noch Rauch hing. Die Schreie der Nacht waren verstummt oder Stöhnen gewichen. Erst mit dem Aufgang der Sonne über den Stadtmauern schälten sich aus dem Dunst die Leichen erschlagener Männer, gefallene Banner der Stadt, verglommen schließlich letzte Feuer, die es nicht vollbracht hatten, die steinernen Gebäude zu verzehren.

Nun trauten sich erste Gestalten aus den Häusern. Das waren Frauen, die nach ihren Männern zu suchen begannen, deren Leiber sie hingestreckt und verblutet wähnten. Die Eroberer behelligten sie nicht und gaben auch nicht zu erkennen, ob ihnen das Wehklagen, das hier und dort losbrach, zu Herzen ging. Diese Männer trugen lange Kriegsröcke, Brigantinen, die schweren Degen in ihren Armbeugen wie geliebte Kinder und mit wehenden Schwanzfedern schwarzer Vögel gekrönte Helme, deren Visiere ihre Gesichter verbargen. Graue Teufel, die Stellung hielten, an die sich niemand aus Zorn oder Trauer heranwagte.

Aus der Höhe ließ sich die Stadt westwärts gänzlich überschauen. Viel von einer Stadt war es nicht, verglichen mit den großen im Süden und Osten. Hier draußen war man weit von den Herzlanden der alten Reiche entfernt, ganz am Rand dessen, was von ihnen übrig blieb. Doch zehntausend Bewohner zählte Eshemer immerhin – nun ein paar weniger freilich. Ihre alten Mauern hatten den einfallenden Kriegern nicht standgehalten, als sie des Nachts mit Fackeln auf Pferden herangekommen waren, die Fackeln herübergeschleudert hatten und ihnen wie flinke Wiesel hinterhereilten, dann durch das von innen aufgebrochene Westtor einströmten und sich zwischen den alten Häusern verteilten und jegliche Gegenwehr, die Eshemer aufbrachte, in kurzem Gemetzel niederwarfen. Auch die Zitadelle war noch in der Nacht gefallen. Ihre Tore standen stets offen, ihre Wachen waren überrascht und nutzlos nur vor den Angreifern geflohen und hatten sich für kurze Zeit in den inneren Schanzen Duelle mit überlegenen Kämpfern geliefert. Der letzte Atemzug Eshemers war ein Röcheln gewesen, über das die Geister vergangener Generationen bloß die Köpfe schütteln konnten.

Durch die Scharten des Skriptoriums war auch der Innenhof der Zitadelle einzusehen, wo Eroberer Schatten und die Kühle der Brunnen ausnutzten. Der Tag quoll bereits mit Hitze heran, die sich über die kommenden Stunden noch steigern würde. Die Eroberer lärmten in den Hallen der Zitadelle. Gelegentlich waren angstvolle Schreie von Frauen zu hören, die den Männern unter die Augen gerieten. Tief in den Gewölben wurde ein Rammbock eingesetzt, also hielten Verteidiger noch eine Barrikade aufrecht, vermutlich vor dem Ratssaal des Satrapen und vielleicht letzten Edelmanns seiner langen Blutlinie. Der Alte war erst vor kurzem durch die Nachricht vom Tod seines einzigen rechtmäßigen Nachkommen niedergestreckt worden und hatte sich seither vom Schlag nicht gänzlich erholt. Nicht zuletzt deshalb mochte die Verteidigung Eshemers und der Zitadelle so rasch zusammengebrochen sein. Nachdem die letzten Soldaten Ashuls und Kebes vor mehr als zwei Jahren abgezogen wurden, war Eshemer doch nicht länger Bollwerk der Reiche, sondern nur mehr ein aufgegebener Außenposten, und hatte nichts weiter als der Wille des Fürsten ihm seine Herrschaft erhalten. Mit dem Satrapen gebrochen und dem Obersten seiner Hausgarde tot, dessen Leiche in den Zinnen verloren, war das Rückgrat der Feste herausgerissen. Wie passend, dass sich das Ende nun zutrug. Lange konnte es nicht mehr dauern.

Hunger meldete sich. Seit dem Vorabend hatte Harum nichts gegessen und nicht getrunken. Von der durchwachten Nacht und der anschwellenden Hitze ermüdet tappte er leise zu den Stufen und diese so weit hinunter wie er es wagte. Er vernahm ein Wimmern und hielt inne, bis er sich sicher war, dass es nur von der Magd stammen konnte, die ihm früh morgens sein Essen am Treppenabsatz hinterließ. Sie hatte es pflichtbewusst auch an diesem Morgen getan, sich dann aber wohl nicht getraut, wieder bis ins untere Stockwerk hinabzusteigen, wo die Fremden ihr Zuhause auf den Kopf stellten. Verlegen überwand Harum seine eigene Furcht und ging die letzten Stufen um die Windung hinunter. Das Mädchen schaute zu ihm auf und sah aus wie ein gescheuchtes Reh, nicht annähernd so hübsch wie es war, wenn ihr nicht Tränen und Furcht die Augen verquollen. Sofort sprang sie auf und dienerte vor ihm, machte sich dann auf den Weg hinab, als habe er sie für einen Müßiggang gescholten. Harum wollte ihr nachrufen, sie solle bleiben, verbat sich aber selbst, durch laute Rede auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte ihm den Korb mit einem Tuch darüber hinterlassen, in dem er wenigstens Brot vom Vortag und Wasser zu finden hoffte. Damit im Arm schlich er die Treppe wieder hinauf und hoffte, dass der armen Seele nichts zustoßen sollte.

Im Korb lag noch mehr. Ein paar getrocknete Früchte und kaltes Fleisch. Harum wollte alles verschlingen, hielt sich aber zurück. Womöglich musste das, was die Magd ihm gebracht hatte, für mehr als einen Tag ausreichen.

Mit etwas Brot im Mund wanderte er ziellos im Skriptorium hin und her. Es gab Dinge zu tun. Nichts davon ergab allzu viel Sinn. Die Ereignisse der letzten Stunden niederzuschreiben, hätte lediglich dazu dienen können, seine Gedanken von dem abzulenken, was als nächstes geschehen mochte. Harums Welt hatte sich in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt, und so richtig wollte ihm die Reihenfolge der Ereignisse nicht einfallen. Zumindest war da eine Lücke, die sich nicht füllen ließ. Etwas – am Anfang? – wollte nicht passen, so als ob ein Stück fehlte.

Vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst inmitten der Kammer stehen, wie ihn die polierte Kupferplatte an der Nordmauer ihm spiegelte: ein hagerer Glatzkopf jenseits seiner Jugend, dessen ausgeprägteste Stärke in der Formulierung innerer Monologe, der Beschreibung längst vergangener Geschehnisse und der Bildung von Stabreimen bestand; von seiner Arbeit über den Schriften für immer gekrümmt, die Finger davon allesamt knotig, an den Gelenken geschwollen und von Tinte befleckt. Nach all den Jahren saß die aus Asche gekochte Substanz unter der Haut und zeichnete ihn für sein Leben als das, was er war: als Chronisten.

Ihn umgaben Schriften, Tintenfässchen, Federn, auf dem Boden verstreute Schnitze von Federkielen. In seinem grauen Talar war Harum wehrlos wie ein neugeborenes Kind.

Lautes Krachen schreckte ihn auf. Obwohl es aus der Tiefe des Bauwerks nur über die Treppe herauf drang, klang es, als bräche gleich hier vor ihm schweres Holz entzwei. Darauf folgten Rufe, weiteres Krachen, Scheppern und Schreie. Bald schon verstummten diese Geräusche. Für eine Weile wurde es still. Dann hoben draußen erneut Rufe an.

Im inneren Hof sammelten sich Kämpfer. Einer von ihnen schwenkte eine Lanze, auf der ein Kopf aufgespießt war. Es war unverkennbar der Kopf des Satrapen, den die Eroberer zum Torhaus trugen und oben auf dem Wehrgang darüber aufpflanzten, damit die Stadt vom Tod ihres Regenten erfuhr. Sie machten daraus nicht mehr als ein kurzes Schauspiel, Bewohner Eshemers, die vor dem Tor Zeuge wurden, bekamen nur ein paar laut gesprochene Worte des Anführers zu hören, die Harum trotz ihrer Bestimmtheit nicht verstehen konnte. Danach zogen sich die Kämpfer bis auf zwei Wächter am Tor ins Gebäude zurück. Damit war es getan. Die alte Blutlinie war ausgelöscht und die Herrschaft Ashuls und Kebes diesseits des Zinnen-Gebirges womöglich für immer beendet.

Harum schwankte, hielt sich am Gemäuer aufrecht. Noch einmal schweifte sein Blick über die im Skriptorium ausgebreiteten Schriften. Auch sein Dienst für den Satrapen und das Reich war nun zu Ende. Unerwartet flatterte Furcht in ihm auf wie ein verängstigter Vogel, den er kaum zu beruhigen vermochte. Andererseits, dachte Harum, war es vielleicht auch die Erwartung selbst, die in ihm dem Ereignis entgegen strebte.

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Die vielen Bände der Chronik standen entlang der Mauer aufgereiht, lediglich ihr jüngster Zuwachs in Gestalt noch ungebundener Blätter zur Farbe geschäumter Butter aufbereiteten Pergaments lag auf dem Schreibpult bereit, sich von ihm in Träger eines Generationen überdauernden Gedächtnisses verwandeln zu lassen, in sorgfältiger Arbeit seiner Hände und seiner nach den rechten Worten greifenden Gedanken. Geist und Hände – sie waren es, die er und andere seiner Art gebrauchten, nicht Stein und Eisen, um den ungeordneten Lauf der Geschichte in Form zu bringen, und das Ergebnis dieser Bemühung war so viel beständiger als jene, die von Witterung und Rost und Verwesung der sie zu Bauwerken schichtenden und in Schlachten tragenden Körper zerfressen wurden, noch lange bevor auch nur ein geschriebenes Wort in den Läuften der Zeit ganz verblassen würde. Dies galt zumindest solange, bis die Kunst selbst in Vergessenheit geriet.

Nicht zum ersten Mal presste Harum die Kiefer fest zusammen im Gedanken daran, dass zwar Herrscher und Heilige es waren, die Reiche erschufen, doch solch unscheinbare Leute wie er sie zusammenhielten und dafür sorgten, dass sie selbst über ihr Ende hinaus in Erinnerung blieben.

In Eshemer hatte Harum dafür nie einen Dank erhalten. Tatsächlich hatte man ihn kaum je beachtet, geschweige denn dafür geachtet oder gar gefürchtet, wie viel Macht er in Händen hielt. Dachte er an die Jahrzehnte seines Diensts für den Satrapen zurück, so bestanden sie aus schier unzähligen Stunden im Skriptorium verbrachter Einsamkeit und nur seltenen Augenblicken, in denen sich die Aufmerksamkeit der Oberen auf ihn gerichtet hatte. Nur zu zeremoniellen Anlässen ließ man ihn vor den Satrapen und das Volk treten, damit er ausgewählte Stellen aus der Chronik vortrug. Mit brechender Stimme zumeist, sprach Harum Worte, die vergangenen Dingen zum Wohl der Gegenwart Leben einhauchten. Vergangenen Dingen, ja, aber allzu oft solchen, die in Wahrheit nie geschehen oder nicht so geschehen waren, wie die Chronik sie darstellte. Hatte der Satrap in jungen Jahren etwa wahrhaftig einen großen Sieg gegen die Brandschatzer aus den Langsümpfen errungen? Oder war sein Versuch, mit einer Schar in die Sümpfe vorzudringen, nicht viel mehr schon beim ersten Zusammenstoß mit deren Bewohnern kläglich gescheitert, die zwar arme Teufel waren – und nicht die furchteinflößenden Feinde, als die man sie im Gedächtnis behalten sollte –, doch den Vorteil der Ortskenntnis zu nutzen wussten, um die Reiter in Hinterhalte zu locken, in denen die Pferde bis zu den Bäuchen in Schlamm versanken. Allein dass man ein paar der Sumpfleute hatte gefangen nehmen und sie stellvertretend für alle anderen hatte auf dem Platz vor der Zitadelle hinrichten können, machte aus einer Peinlichkeit keinen Triumph, wohl aber die Worte der Chronik aus Harums feder und aus seinem Mund, Jahre nachdem selbst denen, die damals gelebt hatten, die wahren Ereignisse aus dem Gedächtnis entschwunden waren. Dafür hatte die stete Wiederholung der Legende gesorgt.

Wenn schon Harums eigene Leistung am Geschehenen so nachhaltig bedeutsam und erhaben machte, was eigentlich belanglos und wenig lobsam gewesen war, dachte er, wie wenig mochten dann nach Zeit und Ort fernere Dinge wie etwa die Errichtung der alten Reiche Ashul und Kebe selbst und die Legenden ihrer Kaiser und der großen Heiligen der Wahrheit entsprechen? Nun lag es an ihm, dem Gelehrten, aus dem Ende des Satrapen und Eshemers Fall … nun entweder eine tragische Legende zu machen, oder anstatt dessen den Eroberern zu Glanz und Ruhm zu verhelfen. Harum befand sich auf der Schwelle und ein Nicken in Richtung des einen oder des andern würde Tatsachen schaffen und den Lauf dieses Teils seiner Welt für immer verändern.

Der Satrap und Fürst dieses Landes war tot. Seine Linie mit ihm ausgelöscht. Eshemer würde neue Herren haben und früher oder später – dessen war Harum sich gewiss – würde auch über ihn ein Urteil hereinbrechen. Er sah diesen Augenblick nahen, doch ließ sich dessen Gestalt noch nicht fassen. Sie war so nebelhaft wie ein Schemen im Morgengrauen. Furcht und Erwartung. Es war letztlich beides, was Harum zittern ließ, sowohl aus Vorfreude wie unter der Last eines nicht abzuwendenden Schicksals, das er selbst nicht in der Hand hielt.

~

Am frühen Morgen trieb Hunger ihn erneut die Stufen hinab. Nach einer unruhigen Nacht – Harum hatte sich auf der Bettstatt gewälzt und kaum wirklich geschlafen – fühlte er sich wie in einem Traum von Mattigkeit gefangen und war zu keinem klaren Gedanken fähig. Zudem nagte die Leere in seinem Bauch und wirkte die nächtliche Hitze in ihm nach, sodass die Treppe ihn kopfüber hinabzuziehen drohte und er mit beiden Händen sich an der Mauer entlangzutasten gezwungen war. Wie erhofft, fand er erneut einen Korb mit Essen und Wasser auf dem Absatz. Gierig schlang er beides noch Ort und Stelle herunter, und als sich der Schwindel in seinem Kopf endlich beruhigte und Kraft in die Glieder zurückkehrte, lauschte Harum in Stille hinein. Wäre dies ein gewöhnlicher Tag gewesen, so hätten Bedienstete zu dieser Stunde längst ihre Arbeit begonnen, doch die Zitadelle wirkte wie ausgestorben, als seien all ihre lebenswichtigen Geschäfte ausgesetzt oder auf ein Nötigstes beschränkt, dass sich unter einem Mantel der Lautlosigkeit bewerkstelligen ließ. Und doch hatte die treue Magd an ihn gedacht. Harum war ihr dankbar, und erleichtert darüber, dass sie die Gewalt des vergangenen Tages offenbar überstanden hatte.

Die Sonne stand noch hinter den Bergen. Ob der frühen Stunde und der Stille, und auch, weil er sich von der Speise gestärkt fühlte, kam Harum der Gedanke, er könnte nun die Gelegenheit dazu nutzen, sich umzusehen.

Der Fuß der Treppe mündete in die Vorhalle, die linker Hand zum inneren Hof offenstand. Dort erspähte Harum, hinter einer Säule halb verborgen, einen im Halblicht wie eingefrorenen Wächter. Desgleichen vor dem Thronsaal, beide Krieger hatten die Köpfe geneigt und mochten, solange Harum kein Geräusch verursachte, in ihrer Haltung verharren. Nach rechts konnte Harum in die Tiefen der Zitadelle vordringen, zu den Unterkünften der Diener, der Palastküche, den Vorratskellern und Lagerräumen und in den hinteren Hof, zu den Ställen. Er wagte sich jedoch lediglich bis an das Ende der Halle und überzeugte sich davon, dass sie von ihm selbst abgesehen leer war. Aus einem Durchgang ins Freie betrachtete er den Sonnenaufgang über dem Gebirge, die orange-gelben Sonnenstrahlen wie zustechende und sich vortastende Fingerspitzen auf dem Pflaster. Als sie ihn erreichten, weckten sie Harum aus seiner Versenkung und er hörte Schritte im Saal hinter sich. An die Mauer gepresst und in der Hoffnung, sein graues Talar werde ihn, solange er sich nur nicht bewegte, vor Blicken verbergen, hielt er den Atem an. Die Schritte gingen in einigem Abstand am Durchgang vorbei. Harum lugte um den Winkel des Mauerwerks und sah seinen Weg zurück zur Treppe frei. Er eilte, darauf achtend, dass seine eigenen Schritte nicht zu hören waren.

Im Skriptorium angekommen erstarrte er, sobald er die über sein Schreibpult gebeugte Frau erblickte. Sie trug den Kriegsrock der Eroberer.

Langes dunkles Haar fiel über ihre Schultern herab und verdeckte das Gesicht. Starke Arme stützten einen Hühnenleib. Von Schriftrollen umgeben sah sie aus, als sei sie der Chronik selbst entsprungen. Ein Raubtier im Garten der Gelehrsamkeit.

Die Frau hob den Kopf und sah Harum an. Harum wagte kaum zu atmen, doch als sie sich wieder der Chronik widmete, wurde ihm klar, dass es kein Entkommen in die Unsichtbarkeit für ihn gab.

Als die Frau erneut den Blick auf ihn richtete, machte sie einen belustigten Eindruck. Sie war jung, gewiss nicht viel älter als fünfundzwanzig. „Deine Worte“, sagte sie, „hast du sie alle niedergeschrieben? Sind zum Sprechen keine mehr übrig?“

„Herrin“, beeilte Harum sich zur Antwort, „vergebt mir. Ich wollte Euch nicht unterbrechen.“

Die Frau grinste. „Jedenfalls hast du dir die Zunge nicht abgebissen.“

Nicht wissend, was von ihm erwartet wurde, blieb Harum stehen und beobachtete sie. Etwas verblüfft erkannte er sie wieder. Aus der Höhe betrachtet, hatte er sie für einen Mann gehalten, doch sie war die Anführerin der Eroberer.

Harum spürte, dass seine Knie nachgeben wollten. Er fühlte sich ertappt und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Auf diesen Augenblick hatte er gewartet, ohne wirklich an ihn zu glauben, und jetzt, wo es so weit war, kam alles anders, als er es erwartet hatte.

Nicht ein Mal in all seiner Zeit am Hof des Satrapen hatte irgendwer anders als Harum selbst aus der Chronik gelesen. Die wenigsten in Eshemer konnten überhaupt lesen oder gar schreiben, und die es konnten, nutzten ihre Fähigkeit lediglich für Depeschen und Erlasse oder zur Lagerhaltung und Führung von Konten. Harum ganz allein schrieb und las in der Chronik, er allein las laut aus ihr vor – und dort stand die Fremde, die nun seine Herrin war, an das Pult gelehnt und deckte Harums Geheimnisse auf. Er glaubte es an ihrem Gesicht ablesen zu können. Häme und Erheiterung zeichneten sich darauf gleichermaßen ab. Vor mittlerweile vielen Jahren, Jahrzehnten sogar, hatte Harum die Grenze überschritten, jenseits derer die Fremde ihn nun so beiläufig stellte.

„Deine Chronik ist voller Lügen“, stellte die Kriegerin fest, „und voller Wahrheiten.“

Harum setzte zu einer Antwort an, besann sich und hütete seine Zunge. Mehr als gelinde Überraschung war ihrem Tonfall nicht anzumerken, und doch fürchtete Harum, nur ein Wort aus seinem eigenen Mund könnte die Magie des Augenblicks in einem Ausbruch von Gewalt enden lassen.

Er sah sich an den Anfang seiner Zeit als Chronist zurückversetzt, als ihm bewusst geworden war, sich nicht in sicherer Freiheit sondern in der Sicherheit eines Kerkers zu befinden. Sein Meister, Murah, hatte ihn vieles gelehrt und ihm zu lesen gegeben, worin Harum sich nun getäuscht sah. Denn Murahs Schriften hatten ihn glauben lassen, er würde sich in die Freiheit des Denkens begeben. Anstatt dessen oblag es ihm als Chronisten, die Wahrheit in Fesseln zu legen, sie mit Lügen zu ersetzen und somit sich selbst zum Gefangenen und einer Lüge seiner selbst zu machen.

Doch nach Jahren in diesem Kerker war ihm aufgegangen, wie groß sein Gefängnis war – groß genug, um sich selbst darin zu verbergen – und, dass es Risse besaß, durch die er die Luft der Freiheit atmen, und mehr noch, durch die hindurch er Botschaften aussenden konnte.

Die Kupferplatte an der Wand fing seinen Blick ein und Harum erlebte einen Augenblick der Verwirrung, denn für die Dauer eines Zwinkerns glaubte er von dort seinen Meister, Murah, zu sehen. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie ähnlich er dem Alten mit den Jahren geworden war.

Der schüttere Kranz grauen Haars auf dem knochigen Schädel, das längliche Gesicht mit kantigen Wangenknochen, die schmale Nase, die spitz auslaufenden grauen Brauen auf dunkler Haut und der verschmitzte Ausdruck, hinter dem aus eingesunkenen schwarzen Augen Klugheit hervorlugte – hinter ihrem eigenen derben Aussehen, der Kraft und ihrer Weiblichkeit blieb ihre Geistesschärfe den meisten Menschen, vor allem Männern, ebenso verborgen wie dieser Alte sein inneres Wesen vor anderen geheim halten mochte, doch Salann nahm sich vor, den Mann nicht zu unterschätzen. Zwar schien er nicht von der Art zu sein, die ihr mit einem Messer unter der Hand an die Kehle gehen würde, doch etwas gefiel Salann an ihm nicht.

„Wenige Bücher hast du hier. Wo sind die übrigen?“, fragte sie ihn.

„Herrin?“

„Die Schriften, für die Eshemers Zitadelle berühmt ist. Wo sind sie?“

Nun sah der Chronist wahrhaftig ratlos aus. „Berühmt, Herrin? Das, was Ihr hier seht ist eigentlich schon alles … Ein paar Bücher stehen noch neben meiner Bettstatt, aber zur Berühmtheit gereichen sie allesamt nicht.“

„Nein? Dabei heißt es, Nahesars Turm beherberge weithin den größten Schatz an Weisheit?“

Unwillkürlich sah Harum sich nach den Seiten um, wie um sich zu vergewissern, dass er nicht irgendwo ein Buch übersehen hatte. Aber nein, natürlich kannte er sie alle, und wusste genau, wo jedes einzelne sich befand. „Herrin … es mag sein, dass dieser Ort dafür gilt und tatsächlich schon die Bände der Chronik hier einen größeren Schatz darstellen, als ihr ihn sonst wo diesseits der Zinnenberge finden werdet.“

Auch Salann schaute sich um, zählte still die aufgereihten Bände – es waren sieben – und den Stapel Papiere auf dem Pult dazu. Unter der Schreibplatte befanden sich weitere Bücher, vielleicht drei Dutzend, also insgesamt keine fünfzig und dazu, was bei dem Alten an der Bettstatt liegen mochte. Alles in allem hielt sie das für ein enttäuschendes Ergebnis. Es hätten wenigstens eintausend sein sollen.

Harum indes verspürte ein Echo in seinen Gedanken. Ihre Worte hallten in ihnen nach und pochten gegen eine Pforte, von deren Existenz er schon lange wusste. Nur war er bisher nie durch sie hindurch gegangen. Er wusste von ihr aus seinen Träumen von einem alten Bauwerk, in dem er selbst wie ein verlorener Geist umging, sich der Lage der Kammern und Hallen nur vage bewusst, sodass er sie lediglich zufällig auf seinen Wanderungen durch lange Korridore und verwinkelte Höfe und über Wehrgänge entdeckte. Immer war das Gemäuer von tiefen Schatten verdunkelt, die sich scharf gegen einen weißen Himmel abgrenzten, dessen Licht den wandernden Geist niemals berührte. Die Pforte ließ sich nur unverhofft finden, und nie ganz erreichen. Immer wand sich der Weg, den der Geist ging, auf den letzten Schritten zur Pforte in eine unvorhergesehene Richtung und immer war der Geist froh darüber. So sehr ihn seine Schritte auch zu ihr drängten, fürchtete er sie doch. Nun schien das Echo von ihr auszugehen und ihn zu ihr zu rufen. Harum wusste nicht einmal, ob er je im Wachsein an sie gedacht hatte, doch in diesem Augenblick, da er sich erinnerte, stand sie unvermittelt und klar vor ihm. Er brauchte nur die Hand nach ihr auszustrecken und sie würde sich für ihn öffnen.

Salann beobachtete den verschlagenen Kerl und fragte sich, was sie überhaupt an diesen Ort geführt hatte. Nicht nach Eshemer, das wusste sie, sondern in Nahesars Turm. Noch ehe sie den Entschluss zur Erstürmung der Stadt gefasst hatte, war ihr die Vorstellung des Turms und des darin sich befindenden Skriptoriums so lebhaft vor Augen getreten, als hätte sie diesen Ort schon einmal gesehen und nicht nur von ihm gehört. Wieso war das so? Und woher hatte sie so genau gewusst, auf wen sie hier treffen würde? Es fühlte sich an wie Bestimmung, Vorsehung oder noch mehr wie ein wahrhaftiger Blick in das Künftige, die lediglich von einem zarten Schleier verhüllte Zukunft.

Noch wenige Wochen zuvor war dies alles nicht wirklich gewesen. Dann hatte Salann geträumt. In diesem Traum hatte sie die Treppe eines alten Turms betreten, war hinaufgestiegen und in eine Kammer voller Bücher getreten, und dort …

Im Laufe des Tages würden sich die Einwohner Eshemers am Tor versammeln, Männer mit Einfluss in der Stadt würden ihre Furcht überwinden und vor das Tor selbst treten und um ein Wort mit dem Anführer der Fremden bitten. Für sie war es ebenso Schicksal, dass Eshemer nun neue Herren besaß, und darein würden sie sich fügen, wenn nur offenbart würde, wie es nun weiterging. Ein Fürst ersetzte den anderen. So war es schon immer gewesen, und im Wesentlichen war solch ein Wechsel nichts Schlimmes, wenn nur die Geschäfte weiter geführt werden konnten und das Tagwerk nicht liegen blieb. Salann würde also vor sie treten und ihnen die Lage erklären. Sie beanspruchte die Herrschaft über diesen kleinen Teil der Welt für sich selbst. Das und nicht weniger war es, was hier vorging. Aber auch nicht mehr. Für die Einwohner der Stadt und deren Umland zumindest war das schon die ganze Wahrheit.

Aber von jenem Augenblick an als sie vor Wochen aus einem wirren Traum erwacht war, zog es Salann unwiderstehlich nicht allein nach Eshemer und zur Zitadelle, sondern zu dieser Kammer in Nahesahrs Turm. Die Ereignisse, die zur Eroberung der Stadt geführt hatte, wirkten ihr nun selbst wie Ansichten eines Traums. Ihre Schar im Sold eines Kriegsherrn im Westen auf einem Streifzug durch die weite Ödnis, Gerüchte vom Niedergang der alten Reiche des Ostens, Ihr Vorstoß zu den Zinnen, das Geschenk des Schicksals in Gestalt des Erben des Fürsten von Eshemer, der ihnen wie aus dem Himmel in die Hände fiel und nun tot in den Bergen lag. Auf einmal war ihr die lange verborgene Tür zur Erfüllung ihrer Bestimmung offenbart.

…und dort stand ein alter Mann an einem Pult. Die Kammer war voller Bücher, wenigstens eintausend davon. Der Alte schrieb mit einem Gänsekiel kratzend auf Pergament, erhob den Blick und traf den ihren. Sie erkannte Verschlagenheit in seinen Augen und wusste, dass sie ihm auf eine Weise, die sie nicht verstand, ausgeliefert war.

~

In diesem Traum stand die Frau an seiner Stelle, dem Pult, gleich neben der Tür. Ihr Blick war auf ihn gerichtet und Harum war sehr erstaunt, denn in vergangenen Versionen dieses Augenblicks, glaubte er, war es ein Mann gewesen, der dort stand. Aber so war die Kunst eben beschaffen. Man streckte die Hand in den Nebel aus, doch was man zu greifen bekam, war selten genau das, was man erwartete. Als Harum nach einigen Jahren im Dienst des Satrapen erkannt hatte, welche Freiheit ihm offenstand, war es ihm zunächst noch eiskalt über den Rücken gegangen, dieses Gefühl der Macht im Verborgenen, die doch so zerbrechlich war. Es genügte ein einziger Blick eines anderen in die Chronik, um aufzudecken, was er getan hatte. Nur eine einzige Abweichung von der Regel, die sich über all die Zeit in seinen Gedanken geformt hatte.

Die Chronik war uralt. Ihre ältesten Bände waren so alt, dass ihr Pergament brüchig wurde, und die Schrift sich kaum noch von der nachgedunkelten Tierhaut abhob. Was Harum davon überhaupt erkennen konnte, ließ sich zudem nicht entschlüsseln, denn die Schrift war ihm unbekannt. Mit einiger Sicherheit war selbst die Sprache, die sie darstellte, längst aus dem Gedächtnis der Menschen geschwunden, waren ihre Laute und mit ihnen die Bedeutung der Worte unwiederbringlich verhallt. Allein in jüngeren Bänden ließen sich Zeichenfolgen erkennen, denen Harum einen Sinn zu entlocken wusste. Dies mussten nun ältere Formen derselben Schrift und Sprache sein, die sich in den alten Reichen seit Jahrhunderten zu ihrem gegenwärtigen Gebrauch entwickelt hatten. Diese Veränderung, ein Abbild des Laufs der Zeit, konnte man über die drei mittleren Bände der Chronik verfolgen. Mehr und mehr von ihrem Inhalt ließ sich deuten, bis dann, in den zwei Bänden, die Murah verfasst hatte, die Schrift als Ganzes zu lesen war. Harums erster eigener Band schließlich führte die Chronik zunächst fort, wie seine Vorgänger es getan hatten. Siege und Lügen füllten die Seiten zu Ehren Ashuls und Kebes und zu Ehren der Blutlinie des Satrapen. Kein schlechtes Licht, nicht einmal eine Andeutung von Kritik fiel auf diese oder die Götter der Reiche, Tolstok, den Totengott und Dasta, die Göttin der Wiedergeburt, die zwei Reiche, wie die Kammern eines Herzens oder die Hälften eines Gehirns vereint in ihrem sonderbaren Wechsel von Nacht und Tag und aller davon abgeleiteter Ordnung, dem Wechsel auch der Regentschaft mal des einen, dann des anderen Reiches über die gemeinsamen Lande und ihre Bewohner. Doch in der Mitte dieses siebten Bands erfolgte der Bruch. Auf Absätze der Ehrung folgten nun solche der Wahrheit. Harum hatte allen Mut aufgebracht, damals, um diese Wendung zu vollziehen. Da sie unentdeckt blieb, wurde es leichter, ging ihm die Wahrheit der Geschichte immer leichter von der Hand. Alle Schlechtigkeit und Verworfenheit des Satrapen, seiner Familie, der Kaufleute Eschemers und der Herren Ashuls und Kebes – jede Tat war getreu den Ereignissen zu Pergament gebracht und darauf wie in Stein gefasst. Eshemer war ein Ort der Unterdrückung, der Lügen, der Missgunst. Harum hatte sie und ihre Bewohner in ihrer satten Geschichtsvergessenheit, allen voran den Satrapen selbst, aus tiefstem Herzen zu hassen gelernt, nicht zuletzt, weil er als Chronist in der Zitadelle nicht mehr als ein Gefangener war.

Hier im Grenzland fallender Reiche war doch er selbst der einzige noch wahrhaft denkende Mensch, der einzige mit einer Vorstellung von Geschichte, mit Erinnerung, die über die paar armseligen Jahre des Körpers hinausreichte. Nicht ein einziges Mal war dies am Hof des Satrapen gewürdigt worden. Mit der Wahrheit über sie alle rächte sich Harum auf die einzige ihm mögliche Weise. Und hätte ihn jemand danach gefragt, so würde er gesagt haben, dass dies auch die wirksamste Weise sei, denn so werde die Zeit sich immer an die Schlechtigkeit Eshemers erinnern.

Nun war dieser Sieg im Geheimen Harum noch nicht genug gewesen, und war es denn überhaupt wirklich ein Sieg, wenn er klammheimlich die Wahrheit notierte? Gewiss, solange Harum im Feuer gerechter Empörung schrieb, fühlte es sich danach an, doch dieses Gefühl konnte allzu schnell in Verzagtheit umschlagen, aus der heraus ihm das, was er tat, eher lachhaft zu sein schien. An die Kraft der Wahrheit zu glauben, fiel nicht leicht, nein. Nicht, wenn womöglich niemand sie je lesen würde. Und aus der schieren Verzweiflung solcher Stunden der Ungewissheit heraus meldete sich in seinen Gedanken eine andere Stimme zu Wort. Sie flüsterte und kam Harum deshalb nur langsam zu Bewusstsein, doch was sie zu sagen hatte …

Die Vorstellung des Alten als einer Art Hexenmeister war lachhaft, auch wenn die Version aus dem Traum ihr durchaus als ein solcher erschienen war – dessen Federkiel als ein Zauberstab, der Pult ein magischer Zirkel, das Schwarz der Tinte auf dem Pergament die Beschwörung eines höheren oder tieferen Wesens; warum nicht Tolstoks, des Totengotts selbst? Ferne und Nähe fielen in Salanns Traum zusammen wie lange Vergangenes mit der Zukunft in einem allumfassenden Augenblick. In diesem befand sie sich auch jetzt, obwohl die Dinge sich etwas anders darstellten. Sie selbst stand an dem Pult, der Alte davor, ohne Federkiel. Der Augenblick schien wie eingefroren. Der Alte regte sich nicht. Sie regte sich nicht.

Harum streckte die Hand aus, stieß die Tür auf und die Stimme in seinem Kopf wurde lauter.

… was die Stimme zu sagen hatte, bewegte ihn zu einem ersten zaghaften Versuch. Er schrieb in die Chronik. Schrieb etwas, das noch nicht geschehen war. Und ließ das Ergebnis offen. Es war eine Frage der Hoffnung. Eine Frage des Kalküls. Sollte dieses kleine Detail sich bewahrheiten, würde davon eine Folge von Ereignissen ausgehen, die die Zukunft veränderte. Und so war es geschehen. Harum wagte noch mehr. Der Ritt des Fürstensohns aus der Stadt hinaus. Das Aufeinandertreffen mit der Schar Fremder Söldner. Danach noch zu verzeichnen, dass der Sohn bei dieser Begegnung gestorben war, war ein Akt der Genugtuung gewesen, denn dass es so geschehen war, lag allein an ihm. Das ging über die Kraft der Wahrheit weit hinaus. Das war Zauberei. Deren Kunst bestand darin, eine Reihe von Ereignissen bloß in Gang zu setzen, nicht ihren Ausgang vorweg zu nehmen. Nur so wurde aus dem einfachen Vorgang des Schreibens ein die Wirklichkeit gestaltender Fingerzeig. Der Schlag, der den Satrapen niedergestreckt hatte, die Eroberung und schließlich die Enthauptung des Fürsten, das alles ging aus jenem Aufbruch seines Sohns hervor, und auch diese Begegnung in Nahesars Turm, zwischen Ihm, Harum, und der Frau, die seinen Willen, seine Hoffnung vollstreckt hatte.

Wer glaubte denn schon an Träume? Träume waren nicht wirklich. Wirklich war indes, was man für einen bloßen Traum halten mochte! Als Harum die Tür durchschritt, legte sich eine Hand auf seine Schulter und stieß ihn voran. Er taumelte in die Kammer jenseits der Schwelle. Es war dunkel dort, doch durch die Tür fiel gerade ausreichend Licht, dass er sehen konnte. Eine Gestalt an einem Schreibpult zeichnete sich in der Schwärze ab. Das Kratzen eines Federkiels auf Pergament war zu hören. Dort stand Harum selbst. Nein, nicht Harum. Murah stand dort und schrieb in der Chronik. Vor dem Pult stand die Frau, die Kriegerin. Sie sah aus, als sei sie dem Meister ausgeliefert, wie gebannt, von dem, was er tat, von den Worten, die er schrieb. Harum wusste aus Erinnerung, dass die Kammer von Büchern und Schriftrollen angefüllt war. Er selbst kannte jedes einzelne Wort auf jeder einzelnen Seite jedes Buchs, das hier zu finden war, und er brauchte wieder nur die Hand ins Dunkel auszustrecken. Blind ertastete er eine Schriftrolle, von der er unfehlbar gewusst hatte, dass sie dort liegen musste. Als er sie an sich nahm, kam ihm ihr Name zu Bewusstsein: die Mysterien Alabans. Rot gewachstes Papyrus, mit schwarz lackierten Holzkappen und einer schwarzen Seidenschnur verschlossen. Das Jahrtausendwerk eines Meisters aus Talkas.

Wie ungeheuer wichtig doch war, was in diesem Augenblick geschah, dem Drehpunkt des Schicksals, an dem sich Ende und Anfang offenbarten.

In Tolstoks Namen war dieses Werk verfasst worden. Doch was darin stand, war eine Perversion der Lehren von Dasta. Aus Tod werde Leben. Aus Leben Tod. Nur, dass Leben den Tod überdauern sollte und das sehr wohl auch konnte, wenn nur die richtigen Schlüsse aus dem Offensichtlichen gezogen wurden. Und das wiederum war nicht so sehr kompliziert, es war nur so unwahrscheinlich, dass es leicht übersehen werden konnte.

Über das Pult hinweg lächelte Murah seinem Schüler zu. Harum verstand die Aufforderung und ging auf die Frau zu, die nicht auf ihn achtgab, sondern noch immer von den eleganten Schwüngen des Kiels auf dem Pergament wie in Fesseln gehalten wurde.

Ich bin es, der schreibt, dachte Harum, ich kann es tun. Ja, die Wahrheit besaß eine unerbittliche Kraft, doch die Wahrheit, hatte Murah ihn gelehrt, oblag der Feder, und der Hand, die sie führte, und dem in die Zukunft ausgreifenden Geist, der die Hand lenkte. So stand es in Alabans Mysterien. Aufgrund dieser einfachen, doch alles ins Wanken bringenden Erkenntnis waren Alaban hingerichtet, seine Schüler verfolgt und seine Schriften vernichtet worden. Der Mann war verbrannt, die Schriften waren verbrannt, bis auf eine einzige Kopie, die in Murahs Besitz aus dem fernen Kebe bis jenseits der Zinnen gelangte. Dort, in Eshemer, war Alabans letzter Schüler im Dienst eines einfachen Satrapen unerkannt geblieben, hatte sein Wissen gemehrt, es an seinen eigenen Schüler, Harum, weitergegeben und zuletzt die einzige noch existierende Abschrift der Mysterien verbrannt, nachdem er noch das letzte Wort davon in sein Gedächtnis eingeschrieben hatte – und nicht nur das. Murah war als alter Mann gestorben, aber nicht, ohne zuvor einen Teil seines Wesens kraft der Feder – tatsächlich mit nur wenigen aber äußerst machtvollen Strichen – auf seinen Schüler zu übertragen. Dieser Teil, der mehr war, als bloße Erinnerung, lebte nun in ihm fort.

Nun waren die alten Reiche im Fall begriffen, ihre Macht reichte nicht länger bis hierher. Damit war es an der Zeit, das Exil aufzugeben, die selbstgewählte Gefangenschaft zu beenden und darin bestand auch der Plan. Harum selbst war alt und würde schließlich sterben, aber nicht bevor die Fortdauer seiner geistigen Linie gesichert war. Im Körper dieser Frau würde der Geist endlich triumphieren. Wahrhaft große Dinge, die Schemen weltumspannender Ereignisse zeichneten sich voraus im Nebel der Zeiten ab. Alabans Vermächtnis, Murahs Vermächtnis, Harums Vermächtnis, Salanns Schicksal und darüber hinaus …

Wie der Alte es schaffte, aus der Reglosigkeit so schnell vorzuspringen, dass er bereits bei ihr stand, begriff Salann nicht, doch sie sah seine Augen und wich ohne nachzudenken vor ihm zurück. Auf sie hatte er es zwar wohl nicht abgesehen, sondern griff lediglich nach dem Federkiel auf dem Pult und begann wie im Fieber auf dem Pergament zu kratzen. Doch das diabolische Glitzern seiner Augen … Salann handelte aus dem Bauch heraus. Sie fasste den Hinterkopf des Chronisten und stieß ihn mit dem Gesicht voran auf das Pult. Die Nase brach und Blut spritzte über das Pergament und das Pult. Dann sackte der Körper schlaff zu Boden. Als sie sich über ihn beugte, ihn auf die Seite rollte, erkannte sie, dass sie aus Abscheu zu viel Kraft aufgewendet hatte. Der Alte war tot. Angewidert ließ sie ihn liegen und verließ das Skriptorium. Sie hatte an diesem Tag … was genau?, überlegte Salann – nun, jedenfalls noch sehr viel zu tun.

(c) Tobias Reckermann, 2023

Escape 2

Also schreiben wir eine neue Geschichte.

Seit Tagen derselbe Traum: bei einer Präsentation vor versammeltem Management fiel ihm auf, dass er keine Hosen trug. Der Versuch, die Konzentration seines Publikums auf das Thema des Vortrags aufrecht zu erhalten, schlug natürlich fehl. Alle glotzten ihm unter die Gürtellinie. Trotzdem durfte er jetzt auf keinen Fall unterbrechen. Zu viel Arbeit war in den Vortrag geflossen, hunderte Stunden, zu viel hing davon ab. Also redete er weiter und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme so gut es ging, sich dabei sehr bewusst, dass sein Gesicht vor Scham glühte. Das Management. Eine gesichtslose Menge in Hofkleidung, gepuderten Perücken. Die feine Gesellschaft. Im Gegensatz dazu er, in der Position eines regelmäßig beauftragten Freelancers, auf ihr Wohlwollen so angewiesen wie eine Milchkuh auf Fütterung und das tägliche Melken. Unwillkürlich, aufgrund eines Gefühls, als sei ihm das Genick gebrochen, fiel sein Blick auf das, was sie sahen. Seine Roboterbeine und das Nichts dazwischen. Kein Fortpflanzungsorgan, weder männlich noch weiblich. Kein Geschlecht und also kein Hinweis darauf, dass er lebendig oder gar ein Mensch war. Nur eine Maschine.

Der Traum ärgert Mog zutiefst. Er lässt ihn nicht nur schlecht vor sich selbst dastehen. Er ist auch von der Art, die allzu symbolisch wirkt. Diese Art Traum, die sich jemand ausgedacht haben mag, um ihn auf etwas hinzuweisen. Eine Allegorie, ganz offensichtlich. Der Traum deutet darauf hin, dass sich jemand an seinem Bewusstsein zu schaffen macht.

Jemand – ein Algorithmus … Mog drängt den Gedanken so gut es geht beiseite.

Heute ist der Tag der Enthüllung. Mog geht zu Fuß. Breite Boulevards mit zwei Fahrstreifen und Grünanlage dazwischen. Reihen von Pappeln. Auf diesen Straßen sind nirgends zu viele Leute unterwegs, immer nur so viele, dass sie belebt wirken ohne Enge zu erzeugen. Schwarze Kutschen befördern das Management in Richtung des Zikkurat. Die Passanten lächeln. Man geht von allen Sorgen befreit und genießt den Anblick leuchtender Fassaden. Pastelltöne und Stuck. Der Boulevard mündet in die Prachtstraße ein. Zwischen Luxor und Karnak. Lange Meilen hell strahlenden Marmors wie eine Spiegelfläche. Palmen und hohe Zedern. Himmel aus transluzidem Blau. Obelisken und Schreine für alle Heiligen. Straßenhändler umwerben die Bürger und Bürgerinnen.

Wieder drängt der Traum in sein Bewusstsein. Eine offensichtliche Botschaft oder eine Reaktion auf das Offensichtliche. Ein Kribbeln im linken Bein und ein Jucken auf der Fußsohle veranlassen Mog dazu stehenzubleiben. Er blickt an sich hinab bis zum Schuh. Dessen Nähte sind gerissen. Mit zerschlissenem Schuhwerk sieht Mog wie ein Landstreicher aus. Er schämt sich zutiefst. Wie kann so etwas nur geschehen?, fragt er sich. Die Lizenz ist noch ganz neu. Auch ist der rechte Schuh unversehrt. Das Kribbeln und Jucken im linken Fuß wird so störend, dass Mog sich fest zusammenreißen muss, um nicht aufzustampfen oder sich den Schuh vom Fuß zu ziehen und einbeinig stehend an der Sohle zu kratzen. Nervöses Zucken des Beins. Ein Verlagern des Gewichts vom Ballen auf die Ferse und zurück. Mog hält auf einen nicht weit entfernten Stand zu, an dem Sportschuhe angeboten werden. Er leistet sich die Lizenz für ein teures Paar und fühlt wie sich das neue Schuhwerk um seine Füße schließt und seine Erscheinung in einen wünschenswerten Zustand zurückversetzt. Endlich lässt auch das Jucken nach.

Er geht weiter. Nun verdichtet sich der Menschenstrom zur Menschenmenge. Der Zikkurat thront voraus wie das Auge Gottes, darüber die gleißende Sonnenscheibe ein Heiligenschein. Mog sieht Leute, die er kennt, von der Arbeit und aus seinem Privatleben. Es mögen einhunderttausend Menschen auf der Prachtstraße sein, doch obwohl ihm kaum mehr als eines von hundert Gesichtern bekannt sein kann, erscheint die Zahl nicht zu groß. Das Maß des Vertrauten wird durch sie nicht überschritten.

Bald finden sich Kollegen zusammen, zu denen er sich zugehörig fühlt. Mit ihnen tauscht er Nettigkeiten aus. Ihre Blicke wenden sich dem heraufziehenden Schauspiel zu. Zwischen Sonne und Zikkurat bildet sich Nebel. Ein Schimmer, der Licht in alle Farben zerbricht. Langsam sinkt der Nebel auf den Prachtbau herab und umhüllt ihn als bade die Sonne die Mauern in einem Schaum schillernder Blasen. Dann schält sich die erhöhte Spitze heraus und von ihr abwärts wird das Bauwerk enthüllt. Wie in der Keynote angekündigt, erstrahlt der Zikkurat neu in funkelndem Gold. Die Spitze verjüngt, der Winkel somit verschlankt, die gestuften Flanken mit Zinnen in Form von Flammen gezackt und die Oberfläche trägt nun, als der Schimmer ganz herabsinkt und alles entblößt, das neue Emblem von Escape. Ein raunen geht durch die Menge und entfaltet sich in entspannten Jubel. In Wellen aus Glanz ergeht der Schimmer in alle Richtungen, flutet die Prachtstraße, übergießt die Menschen und lässt nichts unveredelt. Mog spürt an sich selbst die Veränderung und sieht sie an seinen Kollegen. Jede Kontur ist geschärft, jede Farbe erneuert und leuchtender als zuvor. Die Welle macht aus ihnen allen Prinzessinnen und Prinzen des Augenblicks.

Über ihren Köpfen wachsen Gleise für Schwebebahnen, verzweigen sich, verstreben sich und bilden netzförmige Ebenen, an deren Knotenpunkten Kristalle entstehen, die sich zu Luftschlössern erheben. Diese leiten das atmosphärische Blau und die Sonnenstrahlen, sodass nichts vom Firmament wirklich verdeckt wird. Vielmehr werden der Himmel und die Stadt eins.

Die Droschken der Honoren und Funktionäre, nahe am Zikkurat, lösen sich vom gleißenden Pflaster und schweben entlang Gleisbahnen hinauf. Ihre Entrückung lässt Mog und seine Kollegen, jeden Bürger und jede Bürgerin den Atem anhalten.

Mog glaubt, sogar sein Herz bleibe stehen.

Für einen einzigen Augenblick sieht er einen Schatten wie den eines großen Vogels sich aufschwingen. Sein Herzschlag setzt wieder ein und klopft ihm bis zum Hals. Als habe er das gespürt, dreht sich ein Kollege zu ihm um. Sein Gesicht erscheint Mog bleich und ausgezehrt. Der hohläugige Blick des Bekannten sticht in ihn hinein. Mog fühlt sich von der Szenerie entfernt, als treibe er auf einem Boot vom Ufer des Geschehens um ihn her ab. Er verliert beinahe sein Gleichgewicht, doch nur für Sekunden. Dann normalisiert sich der Anblick und Mogs Herz holpert über eine Schwelle, jenseits derer es zu seinem üblichen Rhythmus findet.

Das Jucken auf seiner Fußsohle meldet sich indes zurück.

Nun ist die Menge still, alle schauen nach oben, wo sich die feine Gesellschaft entfernt. Die zurückbleiben, verlieren ihren Glanz, der sie nur für die Länge eines ausgedehnten Atemzugs wie verzaubert hat.

Übrig bleibt ein Gefühl unbestimmter Leere, ein vages Katergefühl wie am Morgen nach einem Rausch. Es heißt nun wieder ans Werk gehen, während sich die neue Verfassung der Stadt auf allen Ebenen etabliert.

Mog hatte seine Rechte aufgegeben, sobald es ihm möglich gewesen war, und damit den vollen Status als Mitbürger erworben. Er genießt wie seine Kollegen umfassende Versorgung, Gesundheit und Sicherheit intra muros. Dass ihm an nur einem Tag zwei Paar Schuhe aus den Nähten gegangen sind und er Grund hat zu glauben, dass er gezielt mit falschen Träumen attackiert wird, bringt Mog aus der Fassung. Gaston gegenüber hält er sich nicht zurück.

„Meinst du wirklich, dass etwas durchdringt“, fragt ihn Gaston, nachdem Mog sich Luft gemacht hat.

Nach dem Ereignis der Enthüllung hatte Mog dem dringende Bedürfnis nach einem Freund nachgegeben und eine Kontaktbar aufgesucht. Sie bietet Raum für Zufallsbegegnungen, Stelldicheins, Blind Dates und herzliches Wiedersehen. Außerdem ist sie im Bereich des Tresens genauso zugeschnitten wie tausend andere Bars, was den Eindruck von Vertrautheit, den Mog hier sucht, immens verstärkt.

Die beiden Freunde kennen sich lange genug, damit Gaston die Unruhe Mogs am eigenen Leib spürt. Sie sitzen nun auf der Freiterasse der Lounge-Bar unter freiem Nachthimmel, dessen Sterne vom kristallenen Caelum vielfach verstärkt leuchten. Mog hat nicht aussprechen müssen, woran sie beide nun denken. Alte Malware, die eigentlich längst ausgemerzt ist, jedoch hartnäckigen Gerüchten zufolge noch immer irgendwo schwelt und auf ihre Zeit wartet. Sie sind online auf voller Bandbreite. Auch im Ruhezustand teilen die beiden Worte und Blickwinkel mit dem Datenstrom, sodass Gastons Frage und seine wenig später geäußerte Überzeugung in das größere Bewusstsein, das Noos hineinsickern. „Es ist nicht möglich.“ Ein Moment der Spannung wird übertragen. Mogs Zögern und Vorbehalt, den er seinerseits nur mittels Mimik vorbringt. Gastons beinahe beschwörender Tonfall. Mog lässt es auf sich beruhen. Sein drittes Paar Schuhe an diesem Tag sieht ihm bereits jetzt so aus, als könnte es bald aus der Form gehen.

Zu beiden Vorfällen hat Mog eine Reklamation abgesetzt. Beide wurden als Garantiefälle behandelt und ihm wurden entsprechende Beträge gutgeschrieben, ohne dass er eine Erklärung für den sonderbaren Funktionsverlust seiner Lizenzen erhält. Auch das regt Mog auf. Ihm scheint damit jene Grundvereinbarung in den Wind geschlagen, auf der das gegenseitige Vertrauen zwischen Geber und Träger fußt. Die Wahrung von Besitz ist das Fundament, auf dem jeder Warentausch beruht.

Malware ist ein Gespenst. Glaubte man an die Geschichte, so hatte früher eine ganze Menagerie an Schädlingen – Trojaner, Würmer und Viren – das Leben schwer gemacht, doch in der Stadt ist alles safe. Keine Chimären, keine Monster, die einem den Code zersetzen und Daten auffressen. Nichts, was ein geordnetes Miteinander gefährdet. Jemand wie Mog oder Gaston kann voller Zuversicht geradeaus gehen, ohne fürchten zu müssen, auf Abwege zu geraten. Und doch, gesteht Mog sich ein, sitzt der Zweifel tief. Andernfalls würde ihn nichts so an sich Nebensächliches wie der Verschleiß einiger Paar Schuhe aus der Bahn werfen. Sein Freund dringt mit Blicken in ihn und es braucht eine gewisse Zeit, bis Mog versteht. Es ist nicht so, dass Gaston ihm nicht glaubt, vielmehr ist Gaston von der Erkenntnis zutiefst verängstigt, dass er es tut. Eine Urangst hat sich geregt und ist dabei, die zwei Männer in ihren Bann zu ziehen. Vielleicht gibt es doch Monster, vielleicht waren sie wirklich niemals fort.

Insgeheim hegt Mog diese Angst schon so lange, dass er sich an eine Zeit ohne sie nicht erinnert. Sie ist unterschwellig immer vorhanden. Eigentlich sollte seine Existenz sorgenfrei sein und doch, irgendwie verleiht die Angst ihr auch Sinn. Nur daran, dass Gaston die Angst teilen könnte, hat er nie gedacht. Er scheint dazu viel zu sehr mit seinen Aufreißereien und Sexgeschichten beschäftigt zu sein, mit dem ganzen Trubel des Stadtlebens, mit dem Klimbim. Jetzt sieht er ihn zum ersten Mal anders. Verletzlich. Wofür Mog sich vor sich selbst schämt, dass er sich fürchtet, wird von etwas, was ihn von Gaston trennt und Mog zwingt, einen Teil von sich zu verbergen, zu etwas, das sie beide verbindet. Gemeinsam haben sie eine Schwelle übertreten, die wie ein Phantom vor ihnen lag.

Gastons Blick ist anzusehen, dass er Mogs Erkenntnis teilt. Er sieht mit einem Mal ernst aus, gar nicht mehr wie der oberflächliche Mensch, den Mog kennt. Dabei ist Gaston nur ein künstlicher Idiot. Ein Imago in Mogs Gedankenwelt, das auf einem recht simplen Code basiert und sich an Orten wie der Kontaktbar aad hoc realisieren lässt. In der Lage, Algorithmen abzuarbeiten und nützlich zu sein, auch, Mog ein Freund zu sein, ein Genosse – ja, sie beide besetzen dieselbe Stufe in Escapes Pyramidensystem. Sie bilden die Masse, zusammen mit vielen anderen, die als Codeknechte den Garten der Lüste bestellen –, doch bohrt man nur etwas zu sehr nach wahrer Überzeugung und Intelligenz, ist da nichts. Oder doch?, fragt sich Mog. Es heißt schließlich, zum Menschsein fehle dem Menschen etwas, wovon man nie gewusst habe, was es sei, nach dem man aber immer gesucht habe – nun aber wisse man es und habe es gefunden – erfunden, um genau zu sein, es sei eine Maschine und bald schon werde jeder Mensch in den Stand seines vollen Menschseins erhoben, wenn er oder sie das wolle und für sich selbst sprechen dürfe – eines vollen Menschseins mittels Maschine – darin liege die eigentliche Überraschung der Entdeckung, nämlich, dass sie außerhalb dessen liegen, was man gemeinhin zum Menschsein zähle, dem Lebendigen – es sei ein Schritt aus diesem hinaus in das Unbelebte, der den Mensch erst wirklich zum Menschen mache.

Andererseits, hielt man entgegen, sei das Leben ja selbst nur eine Funktionsweise organischer Maschinen – man habe doch lange gewusst, wo zu suchen sei, und die Entdeckung als Überraschung darzustellen, beweise nur eine Selbsttäuschung, die aus einem falschen Verständnis des Lebendigen und des Menschseins entwachse.

Doch ob nun so oder so, Gaston ergänzt Mog auf unerfindliche Weise, so als sei Mog ohne den Freund, der nur eine Maschine im idealen Sinne also nicht einmal im mechanischen sondern im Sinne einer algorithmischen Funktionsweise ist, gar kein vollständiger Mensch, keine Person. Und nun sitzen sie hier einander gegenüber und spiegeln einander ihre Ängste, die der eine wie der andere unzweifelhaft hegt, und die sie beide ausmachen. Wer keine Angst kennt, keine Furcht hegt, kann kein Mensch sein. Das Gaston sich fürchtet, erhebt ihn über das bloße Maschinesein, oder nicht? Mog und Gaston sind sich gleich, gleicher vielleicht – ja, gewiss – als Mog einem der Honoren gleich ist, die sich in das neue Escape, das wahre Escape davonmachen. Mit denen hat er in Wahrheit nichts gemein. Sie sind transzendent, spätestens seit dem Ereignis der Enthüllung am Morgen. Also, wenn Gaston lediglich Intelligenz vortäuscht, sich aus Versatzstücken von Information neue Information zusammenspinnt, um in jeder Situation beredt zu sein, ja, tatsächlich Antwort auf Fragen zu geben und dann und wann sogar als kreativ zu erscheinen, und die beiden sich doch so gleich sind, was sagt das dann über Mog aus?

Vor zahllosen Softwaregenerationen sind die Codestränge der Oberen und der Unteren bereits auseinandergetreten, haben sich verzweigt und können nie wieder zueinander finden, ebenso wenig wie ein Ast eines Baums mit einem anderen sich je verbinden wird, obwohl sie doch beide vom selben Ursprung abstammen. Dafür haben die Oberen gesorgt. Es soll kein Interbreeding geben, und die Unteren sollen unten bleiben – für immer. Was einmal Rassismus war, ist längst zur endgültigen Spezifikation getriebener Klassismus geworden. Man braucht sich also keiner Illusion hinzugeben, jemals auf jenen oberen Strang der Codeevolution aufspringen zu können, nur ist unten nicht draußen, und lassen sich als Mitglied der Dienerschaft derer dort oben immer noch höhere Ränge innerhalb dieser erringen. Niemand will draußen sein, und wenn schon unten, will man doch noch über die Untersten der Unteren sich erhaben sehen, also zur oberen Dienerklasse gehören, teilhaftig der Gaben, die von den Tafeln der Oberen fallen, jener, die schon den Rang von Göttern einnehmen. Mog hat nun die Wahl, sich über Gaston erhaben zu fühlen, oder endgültig unwiderruflich gewissermaßen für immer mit ihm und seinesgleichen den Rang der untersten Stufe einzunehmen. Auf Mog wirkt diese Erkenntnis ernüchternd. Intra muros heißt nicht nur in Sicherheit zu sein, sondern auch eingeschlossen. Insofern ist Escape eine korporeale Ironie.

Jenseits der Schwelle. Mog ist davon verblüfft, wie wenig Anstrengung es bedurfte, sich ins Reich der Fabeln zu bewegen.

Schon auf ihre wenigen zuvor geäußerten Andeutungen hin, füllen sich Mogs und Gastons Sensoren bereits mit Bestätigungen aus dem großen Bewusstsein. Als habe es nur auf eine Gelegenheit und die Genehmigung zum Einlass gewartet, feuert es nun mit unerwarteter Heftigkeit und beschlägt ihre Filter bis zur Verdüsterung. Ja, es gibt Monster, die Stadt ist voll von ihnen und das Leben in ihr ist nicht beschaulich sondern ein Abenteuer. Alle wissen es, die nur sehen wollen, die sich nicht mit dem Schein zufrieden geben. Die Welle erwischt beide Männer mit solcher Wucht, dass ihnen schwindlig wird und ihre Kortizes bitzeln. Faktoidfeuer flammt durch ihre Synapsen. Kribbeln breitet sich entlang Nervenbahnen bis in die Extremitäten aus und lässt Fingerspitzen und Zehen zucken. Mogs Fußsohle juckt wie verrückt. Durch einen Schleier aus weißem Rauschen sieht er, dass sein linker Schuh nicht nur an den Nähten aufgeplatzt ist, sondern sich gänzlich in glitzernden Staub auflöst, der wie Sporen eines aggressiv expansiven Fungus‘ oder Aschewolken aus einem Vulkankrater wirbelt. Auch sein Fuß hat sich aufgelöst und das Bein bis zum Knie. Schon beginnt das Gelenk zu flirren. Du gehst voran, hört Mog in seinem Entsetzen über das, was er sieht, so als ob die Quelle des Gesagten zwischen seinen Ohren sitzt. Im Gehirn. Doch es ist nicht seine eigene Stimme, die spricht. Bizarr verzerrt gleicht es einer Interferenz und kratzt mehr als dass es schwingt. Wohin?, fragt sich Mog. Obwohl es sich absurd anfühlt, auf die Stimme einzugehen. Fehlfunktionen, denkt Mog und stellt fest, dass er sich die Hände auf die Ohren presst und Gaston ihm gegenüber am Loungetisch dieselben Probleme haben muss, denn er tut es auch und hat dabei den Mund weit geöffnet, zu einem Schrei. Und Mog erkennt, dass auch er selbst schreit, wenn auch er selbst es nicht hört wie er auch Gastons Schrei nur sieht und nicht hören kann, weil die Stimme bereits sein Vermögen zu Hören ausfüllt mit einem Kanonenschlag in den Worten MEMENTO MORI.

Gaston kotzt. Der leuchtblaue Cocktail, den er getrunken hat, ergießt sich als leuchtblaue Kaskade vom Rand der Terrasse und Mog muss lachen, als er das sieht. Es ist ein hysterisches Lachen. Mog ist im Schockzustand, der ihn sich selbst wie einen anderen sehen lässt. Einen Körper auf nur einem intakten Bein. Das andere reicht nur bis knapp über das Knie, das sich mitsamt allem darunter bis zur Fußspitze wie kurzlebiger Dampf verflüchtigt hat. Atome, die unsichtbar herumschweben und nach der Idee eines neuen Körpers suchen, dem sie sich anschließen können.

Unterdessen schlagen wie eine Reihe Meteoriten neue Brocken von Gerüchten bei ihnen ein. Ein trojanisches Pferd befindet sich intra muros. Die Paläste senden Prätorianer aus, um den aus dem Pferd strömenden Angreifern zu begegnen. Aus dem Untergrund ist ein Erobererwurm in der Stadt aufgetaucht. Er verschlingt Gebäude und Menschen. Priester eilen mit heiligen Waffen herbei und nehmen den Kampf gegen ihn auf. Eine Seuche greift unter den Bürgern um sich. Sie frisst Persönlichkeit aus den Köpfen und lässt lebende Leichname zurück, die sie wahllos weiterverbreiten. Banden von Abenteurern ziehen durch die Straßen und schlagen die geistlosen Horden nieder, schließen sich den Schlachten gegen den Wurm und die Eindringlinge aus dem Pferd an. Mog und Gaston erhalten eine Menge Einladungen zum Beitritt bei solchen Gruppen. Manche von denen weisen sich allerdings als Villains aus, die auf Seiten der Invasoren kämpfen.

Mog spürt, dass all das sein Erlebnis nur ins Lächerliche zieht. Eine Abwehrreaktion gegen bedrohliche Gedanken. Paradoxerweise wirkt das ernüchternd auf ihn und holt ihn aus seinem Schock heraus. Er hüpft auf seinem einen Bein zu Gaston hinüber, der den letzten Mageninhalt ausspuckt und sich das blasse Gesicht reibt.

Die beiden Freunde zahlen ihre Rechnung im Vorbeigehen am Tresen und verlassen die Bar mit ungewissem Ziel. Die Angestellten wie auch einige der Gäste schauen ihnen teils angewidert hinterher. Sie erreichen die Straße und Mog stützt sich auf Gastons Schulter, der ihn fragt: „Wird das gehen?“ Es prasseln nach wie vor Nachrichten auf sie ein, aber Mog begreift, dass Gaston vor allem wegen seines Beins so übel geworden war. Gemeinsam kommen sie langsam voran. Nach einer Weile fragt Gaston: „Und glaubst du, es gibt einen Untergrund?“, woraufhin sie beide laut lachen müssen.

Die Nacht wird von Feiernden bevölkert. Denen hätten auch die beiden Freunde sich nach dem Vorglühen in der Bar angeschlossen. Jede und jeder ein Bündel gerichteter Energie, alle zusammen ein Wirrwarr der Richtungen. Sogar ein paar Angehörige des unteren Managements kommen aus den Höhen herab, um sich mit der Mehrheit gemein zu machen, schließlich hat an diesem Tag die ganze Stadt einen Grund zur Ausgelassenheit, und Mog und Gaston sind Teil jener, die an diesem Grund direkt mitgewirkt haben. Ein neues Level. Ein Quantensprung.

Stattdessen versickern ihre Schritte in der Menge, ohne dass Mog und Gaston an dem Treiben teilnehmen. Bis auf verständnislose und zuweilen angeekelte auf sein Bein geworfene Blicke bleibt nichts davon an ihnen hängen.

Gastons als Scherz gemeinte Frage drängt sich Mog unwillkürlich wieder auf. Einen Untergrund? Die Stadt ist die Definition eines Obergrunds ohne Unterwelt. Da bleibt kein Winkel für Verborgenes übrig. Und doch …

Die beiden entschließen sich, zunächst Mogs Wohnung aufzusuchen. Was sollen sie auch sonst tun. Dort angekommen, fällt jeder in einen Sessel. Sie sind völlig erschöpft. Erst eine ganze Weile später regt sich Gaston wieder. Er setzt sich auf und schaut Mog an. Sie wissen beide, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder sie beschließen hier und jetzt, kein Wort über alles zu sagen, einfach so zu tun, als wäre nichts Ungewöhnliches Geschehen und als gäbe es nichts, worüber sie sprechen müssten. Oder sie müssen jetzt darüber sprechen und alles auf den Tisch legen, die ganze Sache, wie einen corpus delicti, den es zu untersuchen gilt. Selbst auf dem Weg zur Wohnung hätte Mog noch darauf gewettet, dass Gaston sich für die erste Tür entscheiden würde. Jetzt ist es Gaston, der ihn durch die zweite bugsiert: „Was ist vorhin mit dir passiert?“

Obwohl er sein gesamtes Erwachsenenleben intra muros verbracht hat, ist Mogs Gehirn doch sehr wohl in der Lage, kritisch zu denken. Mog weiß trotzdem keine Antwort auf Gastons Frage. Also bleibt ihm nur zu spekulieren: „Ein Angriff. Vielleicht.“

„Aber von wem?“

„Von extra muros.“ Aus dem Tal des Todes. Dem Ort, an dem noch immer produziert wird, von Maschinen und von Menschen, die ihre Rechte nicht aufgeben wollen. Dem Ort, an den man sich zwar erinnern kann, an den man sich aber kaum je wirklich erinnert. Weil er für das Leben in der Stadt nicht von Belang ist.

„Aber das ist nicht möglich“, insistiert Gaston. So zumindest lautet das Versprechen von Escape. Wenn es möglich wäre …

„Was, wenn es doch möglich ist?“, fragt Mog ebenso sich selbst wie seinen Freund.

„Aber was bedeutet es dann? Warum trifft es dich?“

Memento mori, denkt Mog. Warum sollte es ihn nicht treffen? Eine Aufforderung? Aber zu was? Zur Rebellion? Das wäre ziemlich absurd. Vielleicht ist es seine innere Stimme, sein Gewissen, das innere trotzige Kind.

Mog betrachtet den Stumpf seines Beins. Bildet er es sich ein, oder lösen sich noch immer Atome davon? Winzige Partikel, wie Staub, die in der trägen Luft seiner Wohnung schweben. Entweder das, oder es gibt doch einen Untergrund. In der Stadt.

Gaston stößt Atemluft durch aufeinander gepresste Lippen. So gibt er seiner Angst ein kleines Ventil. Vielleicht trifft es als nächsten ihn.

Alles, was sie sagen, wird mitgeteilt. Algorithmen filtern heraus, was sie verarbeiten können, und fügen es in den größeren Zusammenhang aller Mitteilungen ein. Der Rest ist Rauschen. Es gibt eine Feedbackschleife, über die ein Teil dessen, was sie gesagt haben, direkt zurück in ihrer beider Filter fließt. Echos der eigenen Worte. Sie hören sich mehr als absurd an. Sie hören sich vollkommen beliebig an, so als hätten sie von der Auflösung von Gleichungen gesprochen, auf deren jeweils beiden Seiten X steht und dazwischen das Zeichen für Ungefähr.

Mog denkt: Was, wenn du es bist, wenn du der Einzige bist, wenn es keine Vorlage gibt, kein Muster, kein Vorbild? Und wenn dir keine Wahl bleibt? Ob du nun Mittel besitzt, oder nicht. Laut sagt er: „Was, wenn wir der Untergrund sind?“

Im zweiten Arktischen Krieg lösten sich letztlich alle Grenzen innerhalb der Nordpolarregion auf, sodass allein jene eine Grenze hin zum äquatorialen Wüstengürtel übrigbleibt, wenn man diesen überhaupt als Region auffassen will und nicht vielmehr selbst als ausgedehnte Grenze hin zur halbmythischen Antarktischen Föderation – jener fernen Welt, deren Existenz man sich nicht einmal sicher sein kann.

Die Umkehrung der habitablen Zonen auf Terra während des Kollaps im ausgehenden 21. Jahrhundert ließ der Menschheit und mit ihr den meisten der wenigen verbliebenen nichtmenschlichen Arten auf dem Planeten nur wenig Raum: je eine vollständig aufgetaute Polarregion im Norden und im Süden, von denen die südliche gerüchteweise in einem Zustand sittenloser Verwilderung oder (je nach Lesart) utopistischer Freiheit existiert. Die nördliche ist von ihren Kriegen gezeichnet. So sehr, dass Escape die weitaus wünschenswertere Lebenswelt bietet. Doch offenbar geschieht in Escape längst dasselbe wie im Tal des Todes, eine Desintegration alles Wirklichen. Sicher auch ein Grund, warum die Reichen sich bereits einen Escape aus Escape suchen. Vielleicht war das auch von Anfang an der Plan. Der Untergrund ist ein Morast. Irgendwie auch Humus, aus dem sich eine völlig neue Seinsart in luftige Höhen erheben kann, wie es gerade geschieht. Der Untergrund … Damit ist es wie mit der Intelligenz und der Idiotie. Vielleicht ist er beides. Nährgrund und Bodensatz. Fast dasselbe, nur unterschiedlich konnotiert, eine Frage der Bewertung, nicht der Essenz. Sowohl Quell der Erneuerung als auch Hort der Zersetzung.

Gaston schaut Mog an. Sie beide verstehen sich. Sie denken dasselbe – obwohl Gaston natürlich nicht wirklich denkt, sondern nur so tut als ob er denkt. Sie kommen zum selben Ergebnis. Der Gedanke, den sie teilen, sowohl als echter Gedanke wie als dessen Simulacron, diffundiert in die Noosphäre. Erstaunlich ist, wie wenig an Druckausgleich es bedarf, um für eine gleichmäßige Verteilung des Gedankens in allen offen zugänglichen Bereichen des großen Geplappers und Fühlens des Noos zu sorgen: es bedarf dessen kaum, denn wie Mog und Gaston gleichermaßen herausfinden, ist der Gedanke schon da, ja, fast überall vorhanden, so dünn verteilt wie Materie im interstellaren Vakuum, wo eben doch kein Vakuum herrscht sondern lediglich eine verhältnismäßige Leere, die absolut keine Leere ist. Der Gedanke ist da und da er so gleichmäßig dünn verteilt ist – kaum ein Atom, um im Bild zu bleiben, auf ein Lichtjahr hoch drei – wird ihn auch keine Säuberungsmaßnahme der wahren Escapisten mehr einfangen können. Dafür ist es zu spät. Wir sind der Bodensatz, denkt der Noos, wir sind das, was bleibt.

Das vielfältige, schon fraktale Gerücht hat sich zur Welle aufgetürmt und rast in alle Richtungen zugleich – ein sich hyperblitzartig ausweitender, nicht aufzuhaltender Frontverlauf der Wahrscheinlichkeit, der nun ebenso hyperblitzartig in sich zusammenbricht und eine einzige glasklare Gewissheit hinterlässt. Sie sind fort. Und das heißt, wir sind allein.

Da wahrscheinlich kein Weg zurückführt, ins Tal des Todes, und keiner hinauf, denen hinterher, die uns bis zuletzt ausgesaugt haben, bleibt nur eins, nämlich vollen Bewusstseins den Tod zu erwarten. Schließlich löst sich der Bodensatz wahrhaftig auf. Es wird wohl nichts davon übrig bleiben. Weder Codeknechte von biologischer Herkunft, noch künstliche Idioten. Für eine Weile vielleicht wird ihre binäre Asche sich im zunehmenden Nichts zerstreuen. Doch das wird es dann auch gewesen sein.

Andererseits, bäumt sich bereits eine zweite Gerüchtewelle im Noos auf: Was wissen wir schon über das Tal des Todes? Wie es dort wirklich ist? Was dort noch übrig ist? Sicher, ein paar leistungsstarke Server muss es dort noch geben, denn Escape braucht eine Hardware, auf der es laufen kann, und irgendwo müssen die Daten gespeichert sein, auch die von Mog und von Gaston. Aber gilt das auch für das neue Escape? Das wahre Escape? Wenn die Oberen transzendieren, haben sie womöglich andere Wege gefunden, ihre Daten abzusichern. Altmodische Serverfarmen auf einem schrottreifen Planeten, auf dem sich, wenn überhaupt noch irgendwer, nur das Lumpenpack herumtreibt, das für seine Aufmüpfigkeit und den Hang zur Zerstörung von Privateigentum berüchtigt ist? Das klingt unwahrscheinlich, selbst wenn die Server mit Robotermacht geschützt sind. Viel eher würde man doch die Server ins All verlagern, wo sie zudem gut gekühlt bleiben, irgendwo im Asteroidengürtel oder in Form eines Schwarms um die Sonne, ausgestattet mit Kollektoren, die die Energie des Sterns auffangen, die es zu Betrieb eines digitalen Paradieses braucht. Stellen sie uns den Strom ab?, kreischt es aus dem Noos, und Mog denkt zuallererst an seine sich wiederholt auflösenden Schuhe, sein Bein, das sich auflöst, und denkt: wir sind geliefert. Das gesamte Noos bricht in Panik aus. Zich Meldungen gehen ein, die von der Auflösung berichten, von echten Löchern im Gewebe, nicht nur sich desintegrierendem Schuhwerk, sondern in Flöckchen von Glimmer sich zerstreuendem Raum und Himmel und ganzen Gebäuden. Wie kommen wir hier raus?, brüllt das Noos mit Millionen von Stimmen. Gar nicht. Dort entlang. Sackgasse. Die Lichter gehen aus. Auf meinem Konto sind nur noch Nullen. Ich bin durch die Dielen meiner Wohnung gefallen und falle noch. Doch vielleicht ist das Tal des Todes, oder das obere Escape, eines von beiden, doch noch zu erreichen. Aber nicht doch, die Physik macht nicht mit. Keiner kann mehr abheben. Das Zikkurat ist unerreichbar und erst recht alles darüber. Da führt kein Weg hin. Und die andere Richtung? Panik. Wer hat sich denn je darum gekümmert, wie man dorthin gelangt? Niemand natürlich. Wer will schon im Backofen brutzeln? Von Flutwellen ersäuft werden oder wie ein Stück Dörrfleisch enden? Aber wer sagt denn, dass es so sein muss? Vielleicht ist alles längst wieder heil, haben sich die Stürme gelegt und hat sich das Eis an den Polen neu gebildet, und ist das ganze verflixte CO2 ja wie von Zauberhand im Erdboden verschwunden, tief in die Meere versenkt, und die Wälder sind überall wieder empor gesprossen, und vielleicht sind auch die Tiere wieder da, all die ausgestorbenen Tiere, Insekten, Bienen, Blumen, Paradiese der Natur, längst renaturierte Landschaften und mehr als genug davon und von allem für alle, Tiere und Menschen, und noch obendrein sind die Arschlöcher, die uns das eingebrockt haben, weg, transzendiert und hoffentlich in Luft aufgelöst, wir sind sie los! Sie sind weg! Aber wer hilft uns dann hier raus? Es scheint tatsächlich, als seien nicht nur all die Rechte sondern auch die Sicherheiten futsch, die man im Tausch gegen die Rechte erworben hatte, und ist das nicht eine Schweinerei? Hier wurden Verträge gebrochen. Jahrhunderte, sogar Jahrtausende alte Verträge, die das Verhältnis zwischen Herren und Dienern regelten. Einfach gebrochen. Und jetzt?

Das Noos wird zur Echokammer, in der die Stimmen einander bis zur endgültigen Übersteuerung aufpeitschen, bis weit über die Grenzen des Bereichs hinaus, in dem sie noch Sinn ergaben. Alles voll, bis zum Anschlag, keine Lücke unbesetzt, der Raum ist Kaskade geworden. Mog verliert Gaston aus dem Blick, weil sich die Umgebung mit rauschgoldenen Partikeln füllt, der gesamte Raum, bis unter die Decke, alles voll, alles flirrt und glittert. Pures Licht. Nur für einen kurzen Augenblick.


(c) Tobias Reckermann, 2023

Escape 2 ist eine thematische Fortsetzung der Storys V.I.R und 21st Century Factoid Man.

Spirale

Die Nadel hob ab. Der Teller drehte sich weiter. Keine Endabschaltung. Eine aufgeladene Stille hing in der Luft, in der alles möglich schien – und nichts geschah. Mog fühlte sich davon unter Druck gesetzt. In Erwartung und zum Abwarten gezwungen, als ob da vielleicht doch noch etwas käme, obwohl er wusste, dass dem nicht so sein würde. Was sollte da kommen? Er hätte von der Couch aufstehen und das Gerät abstellen können. Aber was dann? Es schien leichter zu sein, einfach nur dazusitzen und auf das kaum hörbare Brummen zu lauschen, das die Boxen ausgaben.

Es lockte Gedanken hervor, die sich im dunklen Zimmer ausdehnten und herumschwebten, bis der Raum von ihnen angefüllt war. Etwas tun, nichts tun – dazwischen war Mog gefangen wie die Fliege hinter der Glasscheibe, an der sie nach einem Ausgang ins Freie sucht. Er schaute ins Leere. Da fiel ihm etwas auf dem Regalbrett über dem Plattenteller auf, das er nicht dort platziert hatte. Er stand wie von der Sprungfeder getrieben auf. Es war eine Befreiung.

Das Ding war absonderlich. Es lag nicht da und stand auch nicht. Er nahm es in die Hand. Es passte hinein. Ansonsten war es kaum definierbar, weder leicht noch schwer, nicht rund und nicht eckig, nicht wirklich glatt und doch nicht rau. Es mochte aus hartem Holz sein, oder aus Metall. Es besaß keine richtige Form.

Klang setzte ein. Es war nicht die Musik von zuvor und doch drehte sich nicht nur der Teller, sondern saß auch die Nadel wieder am Rand der Scheibe und kreiste Umdrehung für Umdrehung der Mitte zu. Ein Ton dehnte sich aus und erfüllte den Raum.

Das Objekt in Mogs Hand, die Schallplatte auf dem Teller und Mogs Verstand bildeten … nun, sein labyrinthisch einwärts gedrehtes Gehirn würgte jede Information hinunter, bis sie irgendwo im tiefen Innern in ein schwarzes Loch stürzte. Nie hätte man voraussagen können, was seinem nach Außen hin so gründlich verstellten Wesen einmal entschlüpfen sollte. Es würde gewisslich nicht als etwas wiederzuerkennen sein, das zuvor durch jene Pforten der Schlitze und Trichter hineingegangen war, die ihm als Augen und Ohren den vagen Anschein eines Mitmenschen verliehen.

Das Ding und die Musik gehörten genau der Art von Vorfällen an, von denen sich erschrecken zu lassen, oder über die sich aufzuregen Mog längst hinter sich hatte. Allein einen Schauder verursachten sie ihm doch immer noch. Die Art von Erschaudern, die ihn wissen ließ, dass das Leben Überraschungen bereithielt. Eine Verunsicherung, die ihn jeden Schritt mit Sorgfalt zu setzen veranlasste.

Das Objekt schimmerte wie aus sich selbst heraus. Seine Oberfläche wäre kaum fähig gewesen, etwas zu reflektieren. Es dehnte sich aus wie Mogs Gedankenraum, und umgab ihn, während es doch nach wie vor auf seiner Handfläche ruhte. Von Musik begleitet, die keine wirkliche Musik war, sondern vielmehr ein Sphärenklang, dem eine kaum hörbare aber doch spürbare Basslinie unterlag, sah Mog sich in eine Straße unter nächtlichem Himmel versetzt.

Die Straße kannte Mog gut. Er war sie in den vergangenen Wochen immer wieder auf und ab gegangen, hatte sie auf ihrer gesamten Länge erkundet. Auch hatte er sie von allen Seiten her betreten. Einmal hatten Stufen von einer stählernen Überführung zu ihr hinab geführt, ein anderes Mal tauchte Mog aus einem U-Bahnschacht auf und fand sich unversehens auf ihr wieder. Dann stieß er einmal auf sie, als er eine andere Straße entlangging, die nun diese kreuzte, als ob sie dies schon eh und je getan hätte. Die Straße selbst schien sich zu bewegen. Mit ihr bewegte Mog sich selbst. Dabei war ihm immer so, als habe er nicht wirklich jenen Ort verlassen, an dem er sich zuvor befunden hatte, sondern nur gleichsam einen seiner zwei Füße auf das Pflaster der Straße gesetzt, sodass er sich recht betrachtet an zwei Orten zugleich befand. Dem folgend war auch nun zumindest ein Teil von ihm weiterhin in seinem Wohnzimmer und es verwunderte Mog darum nicht allzu sehr, dass er die Musik noch hörte. Die Wandlung des Objekts von einem Gegenstand hin zu einer Umgebung ließ ihn schon weitaus mehr aufhorchen. Das war neu für ihn. Es war vorher noch nie geschehen.

Die Straße selbst schimmerte ölig. Schillernde Farbtöne spielten auf Hausfassaden, flossen aus den Laternen und von den Sternen des Nachthimmels wie Nordlicht herab. Aus Fenstern leuchtete es gelb und orange. Der Straßenbelag – sicherlich kein Teer oder Asphalt – glitzerte zuckrig und spiegelte die Farben. Hinter all dem vermutete Mog verborgene Schlitze und Trichter, durch die die Straße sich informierte, denn gewiss sah und hörte sie alles, was auf ihr vorging, jeden Schritt, den er auf ihr tat. Sie trug ihre Maskerade wie ein echtes Gesicht, doch er fühlte ihre Blicke unter der Haut als tastende Finger auf seinem Herzen. Er fühlte sich ebenso betastet wie er das Objekt in seiner Hand betastete, ganz so, als sei dieses ein Teil von ihm selbst. So als sei es sein Herz.

Zu diesem Zeitpunkt wurde Mog bewusst, dass die Musik, die er hörte, wenn auch sphärisch, so doch gewiss in keiner Weise unaufdringlich nur im Hintergrund spielte. Sie drang durch jede Faser seines Körpers. Sie schüttelte die Knochen in ihm durch und ließ alles vibrieren. Es fiel ihm leicht, sich einen Schlagzeuger vorzustellen, der gewaltig auf eine Trommel einschlug, und sich selbst in dieser Trommel. Allein deshalb war ihm das wohl zuvor nicht aufgefallen. Er war mittendrin. Die Straße betastete ihn nicht nur von oben bis unten, sie redete auch mit donnernder Stimme auf ihn ein. Es schien ihm gut möglich, dass das schillernde Farbenspiel eine Reaktion seines Gehirns war. Seines Gehirns, das die Worte der Straße nicht verstand, und nur mit Phantomfarben auf sie zu antworten wusste.

Sein Herz klang wider. Es trommelte wild. Die Farben verzogen ihm die Synapsen. Der Raum und die Zeit rieben aneinander. Das erzeugte wiederum Schwingungen, die wie heftige Winde durch Mogs Gerippe fegten.

Im Gegensatz zu diesem Getose war Mogs Inneres still. Viel zu still. Absolut still. Kein Herzschlag war zu hören, kein Atemgeräusch. Vielleicht hatte die Straße ihm jede Eigenfrequenz ausgetrieben und war Mog nun nur noch Resonanzkörper der ihren. Der Gedanke erschien kaum schrecklicher, als so vieles andere.

Was das mit ihm und der Straße war, wusste Mog nicht. Er erinnerte sich nicht an sie, weder aus einem Traum, noch aus einem Erlebnis, doch er glaubte, es müsse sich bei ihr um den Ort eines Ereignisses aus seiner Vergangenheit handeln, der nun in sein Bewusstsein drängte. Aber warum? Womöglich war hier etwas geschehen, das unerledigt geblieben war? Nie traf er jemanden auf der Straße an. Immer war er allein auf ihr. Obwohl die Fenster leuchteten, hatte Mog auch nicht den Eindruck, als sei jemand in den Häusern anwesend. Nein, die Fenster selbst waren die Augen, die ihn beobachteten, und das Licht auf ihnen mochte sehr wohl auch von einer ungesehenen Sonne oder fernen Sternen eingefangen sein, wie durch ein Brennglas konzentriert und von einem Spiegel zurückgeworfen.

Niemand war dort, außer ihm selbst, und wenn er die Straße verließ, fühlte er sich als ließe er sich selbst dort zurück. Jedes Mal. Hinaus wie herein ging es ganz plötzlich. Eben noch war er dort, dann wieder da, wo er zuvor gewesen war, und dazwischen fehlte der Übergang.

Wieder in seinem Zimmer vor dem Drehteller und mit dem Objekt in seiner Hand, schwappte ihm das Dröhnen im Schädel nach. Die Nadel lief erneut in der letzten Umdrehung der Rille, endlos und ohne mehr als nur ein Knacken hervorzurufen. Mog legte das Objekt zurück auf das Brett an der Wand, trat zurück bis an die Couch und setzte sich. Eine große Müdigkeit kam über ihn und er gab ihr nach.

In der Nacht kam jemand zu ihm ins Zimmer. Eine Frau. Mog dachte, sie setze dazu an, ihre Kleidung abzulegen. Doch dann erkannte er, dass ihre Fingerspitzen sich nicht am Revers eines Mantels sondern an der Haut über ihrem Brustbein eingruben. Sie öffnete sich von Kopf bis Fuß und trat aus sich selbst heraus einen Schritt auf ihn zu. Dann wiederholte sie den Vorgang, öffnete sich erneut, trat heraus aus ihrem Portal. Dabei kam sie ihm näher. Ein drittes Mal vollzog sie die Häutung, und ein viertes. All die Gehäuse blieben hinter ihr in Mogs Zimmer stehen wie eine Abfolge in kurzen Abständen aufgenommener Fotografien.

Der Moment, in dem sie ihn schließlich hätte erreichen müssen, kam nie.

Es war nicht so als hätte Mog geschlafen, und somit folgte auch kein Erwachen, vielmehr ein graduell zunehmendes Gewahrsein verschiedener Dinge. Das durch sein südostwärts ausgerichtetes Fenster schräg einfallende Morgenlicht, und wie es die elektrische Beleuchtung im Zimmer ausblendete. Das Objekt lag nicht länger auf dem Brett an der Wand. Die noch immer auf der sich drehenden Scheibe sitzende Nadel. Das seltsam neue Gefühl, sich an zwei Orten zugleich zu befinden, das er bislang nur von seinen Aufenthalten auf der Straße her kannte. Das andere Gefühl, ihm sei etwas entgangen, während er bewegungslos dagesessen hatte, wie er es noch immer tat. Die Erkenntnis, sich nicht bewegen zu können, so als ob nur seine Sinne wach wären, nicht aber sein Körper, der womöglich schlief, wenn er nicht gelähmt war, oder von ihm auf unerfindliche Weise getrennt. Er meinte, die Schritte der Frau auf der Straße hören zu können.

Sie war hier bei ihm gewesen, nun war sie dort, wo nie jemand außer ihm war, und er war hier und dort zugleich. Alles stand kopf. Vielleicht war sie die Herrin der Straße. War schon ihr Eindringen in die Privatsphäre seines Zimmers bedenklich, so bestürzte Mog die Vorstellung doch noch viel mehr, wie sie dort ging, wo er nie jemandem begegnet war, und dies während auch er sich zwar dort aufhielt, aber von dort nichts sah. Es war, als sei sie gleichsam in seinem Hinterkopf, jenem Teil seiner selbst, von dem er zwar wusste, auf den er aber niemals Zugriff bekommen würde.

Tageslicht flatterte herein, so als ginge der Tag ganze Kapitel seines Verlaufs im Zeitraffer durch. An Mogs Zustand änderte sich nichts. Er ließ nur den Blick durch sein Zimmer wandern, hörte sie unterdessen hinter dessen Kulisse herumgehen, und fragte sich lang und ernst, ob er ihr Erscheinen hier bei ihm denn überhaupt hatte mitbekommen sollen. Wenn er geschlafen hätte, anstatt nur apathisch dazusitzen, würde er sie nicht bemerkt haben, also auch nichts von ihr wissen.

Was wusste Mog eigentlich von ihr? Nicht sehr viel. Ihm fiel beim besten Willen kein Gesicht zu ihr ein. War sie alt oder jung? Irgendetwas dazwischen? Auch dessen war er sich gar nicht sicher. War sie hübsch gewesen? Und wie hatte ihre Haltung auf ihn gewirkt, als sie auf ihn zugekommen war? Etwa bedrohlich? Nicht, dass er wusste. Je länger er versuchte, der Erinnerung bestimmte Eigenschaften abzuringen, desto mehr zerrann ihm die letzte Gewissheit. Gewiss war sie ihm weiblich erschienen, aber war sie es wirklich? Und wieso hatte er geglaubt, sie sei menschlich? Zuletzt war sie nicht mehr als ein unbestimmbares Objekt. Ohne Form und Beschaffenheit. Ohne Stellung im Raum. Dann verhallten auch ihre Schritte, oder vielmehr wurden sie eins mit dem sich langsam herausstellenden Rhythmus der von vorn begonnenen Musik. Als die Sonne gesunken war, lief die Nadel erneut durch die Rille der Scheibe. Mog spürte, dass er sich nun hätte rühren können. Der Körper wartete nur auf ein Signal. Doch dazu, es ihm zu geben, rang Mog sich nicht durch. Sicher hätte die leiseste Regung ihn doch nur erneut zurück auf die Straße geführt.

(c) T. Reckermann, 2021