Unter dem Mantel der Dunkelheit leuchtete die Stadt in ihren neuen Farben von Flammen und Glut. Entweder starb man dort draußen oder verkroch sich tief in die Häuser. Den Eroberern entgegenzutreten, war nicht klug.
Vom Skriptorium in Nahesars Turm aus betrachtet mutete es beinahe wie ein Mysterienspiel von Dasta und Tolstok an, ein Drama von Licht und Schatten, von Leben und Tod. Panisches Hin und Her traf auf zielsicheres Vorgehen mit geschärften Klingen. Es hielt nicht lang an.
Das Morgengrauen entblößte nur wenig mehr, da über allem noch Rauch hing. Die Schreie der Nacht waren verstummt oder Stöhnen gewichen. Erst mit dem Aufgang der Sonne über den Stadtmauern schälten sich aus dem Dunst die Leichen erschlagener Männer, gefallene Banner der Stadt, verglommen schließlich letzte Feuer, die es nicht vollbracht hatten, die steinernen Gebäude zu verzehren.
Nun trauten sich erste Gestalten aus den Häusern. Das waren Frauen, die nach ihren Männern zu suchen begannen, deren Leiber sie hingestreckt und verblutet wähnten. Die Eroberer behelligten sie nicht und gaben auch nicht zu erkennen, ob ihnen das Wehklagen, das hier und dort losbrach, zu Herzen ging. Diese Männer trugen lange Kriegsröcke, Brigantinen, die schweren Degen in ihren Armbeugen wie geliebte Kinder und mit wehenden Schwanzfedern schwarzer Vögel gekrönte Helme, deren Visiere ihre Gesichter verbargen. Graue Teufel, die Stellung hielten, an die sich niemand aus Zorn oder Trauer heranwagte.
Aus der Höhe ließ sich die Stadt westwärts gänzlich überschauen. Viel von einer Stadt war es nicht, verglichen mit den großen im Süden und Osten. Hier draußen war man weit von den Herzlanden der alten Reiche entfernt, ganz am Rand dessen, was von ihnen übrig blieb. Doch zehntausend Bewohner zählte Eshemer immerhin – nun ein paar weniger freilich. Ihre alten Mauern hatten den einfallenden Kriegern nicht standgehalten, als sie des Nachts mit Fackeln auf Pferden herangekommen waren, die Fackeln herübergeschleudert hatten und ihnen wie flinke Wiesel hinterhereilten, dann durch das von innen aufgebrochene Westtor einströmten und sich zwischen den alten Häusern verteilten und jegliche Gegenwehr, die Eshemer aufbrachte, in kurzem Gemetzel niederwarfen. Auch die Zitadelle war noch in der Nacht gefallen. Ihre Tore standen stets offen, ihre Wachen waren überrascht und nutzlos nur vor den Angreifern geflohen und hatten sich für kurze Zeit in den inneren Schanzen Duelle mit überlegenen Kämpfern geliefert. Der letzte Atemzug Eshemers war ein Röcheln gewesen, über das die Geister vergangener Generationen bloß die Köpfe schütteln konnten.
Durch die Scharten des Skriptoriums war auch der Innenhof der Zitadelle einzusehen, wo Eroberer Schatten und die Kühle der Brunnen ausnutzten. Der Tag quoll bereits mit Hitze heran, die sich über die kommenden Stunden noch steigern würde. Die Eroberer lärmten in den Hallen der Zitadelle. Gelegentlich waren angstvolle Schreie von Frauen zu hören, die den Männern unter die Augen gerieten. Tief in den Gewölben wurde ein Rammbock eingesetzt, also hielten Verteidiger noch eine Barrikade aufrecht, vermutlich vor dem Ratssaal des Satrapen und vielleicht letzten Edelmanns seiner langen Blutlinie. Der Alte war erst vor kurzem durch die Nachricht vom Tod seines einzigen rechtmäßigen Nachkommen niedergestreckt worden und hatte sich seither vom Schlag nicht gänzlich erholt. Nicht zuletzt deshalb mochte die Verteidigung Eshemers und der Zitadelle so rasch zusammengebrochen sein. Nachdem die letzten Soldaten Ashuls und Kebes vor mehr als zwei Jahren abgezogen wurden, war Eshemer doch nicht länger Bollwerk der Reiche, sondern nur mehr ein aufgegebener Außenposten, und hatte nichts weiter als der Wille des Fürsten ihm seine Herrschaft erhalten. Mit dem Satrapen gebrochen und dem Obersten seiner Hausgarde tot, dessen Leiche in den Zinnen verloren, war das Rückgrat der Feste herausgerissen. Wie passend, dass sich das Ende nun zutrug. Lange konnte es nicht mehr dauern.
Hunger meldete sich. Seit dem Vorabend hatte Harum nichts gegessen und nicht getrunken. Von der durchwachten Nacht und der anschwellenden Hitze ermüdet tappte er leise zu den Stufen und diese so weit hinunter wie er es wagte. Er vernahm ein Wimmern und hielt inne, bis er sich sicher war, dass es nur von der Magd stammen konnte, die ihm früh morgens sein Essen am Treppenabsatz hinterließ. Sie hatte es pflichtbewusst auch an diesem Morgen getan, sich dann aber wohl nicht getraut, wieder bis ins untere Stockwerk hinabzusteigen, wo die Fremden ihr Zuhause auf den Kopf stellten. Verlegen überwand Harum seine eigene Furcht und ging die letzten Stufen um die Windung hinunter. Das Mädchen schaute zu ihm auf und sah aus wie ein gescheuchtes Reh, nicht annähernd so hübsch wie es war, wenn ihr nicht Tränen und Furcht die Augen verquollen. Sofort sprang sie auf und dienerte vor ihm, machte sich dann auf den Weg hinab, als habe er sie für einen Müßiggang gescholten. Harum wollte ihr nachrufen, sie solle bleiben, verbat sich aber selbst, durch laute Rede auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte ihm den Korb mit einem Tuch darüber hinterlassen, in dem er wenigstens Brot vom Vortag und Wasser zu finden hoffte. Damit im Arm schlich er die Treppe wieder hinauf und hoffte, dass der armen Seele nichts zustoßen sollte.
Im Korb lag noch mehr. Ein paar getrocknete Früchte und kaltes Fleisch. Harum wollte alles verschlingen, hielt sich aber zurück. Womöglich musste das, was die Magd ihm gebracht hatte, für mehr als einen Tag ausreichen.
Mit etwas Brot im Mund wanderte er ziellos im Skriptorium hin und her. Es gab Dinge zu tun. Nichts davon ergab allzu viel Sinn. Die Ereignisse der letzten Stunden niederzuschreiben, hätte lediglich dazu dienen können, seine Gedanken von dem abzulenken, was als nächstes geschehen mochte. Harums Welt hatte sich in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt, und so richtig wollte ihm die Reihenfolge der Ereignisse nicht einfallen. Zumindest war da eine Lücke, die sich nicht füllen ließ. Etwas – am Anfang? – wollte nicht passen, so als ob ein Stück fehlte.
Vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst inmitten der Kammer stehen, wie ihn die polierte Kupferplatte an der Nordmauer ihm spiegelte: ein hagerer Glatzkopf jenseits seiner Jugend, dessen ausgeprägteste Stärke in der Formulierung innerer Monologe, der Beschreibung längst vergangener Geschehnisse und der Bildung von Stabreimen bestand; von seiner Arbeit über den Schriften für immer gekrümmt, die Finger davon allesamt knotig, an den Gelenken geschwollen und von Tinte befleckt. Nach all den Jahren saß die aus Asche gekochte Substanz unter der Haut und zeichnete ihn für sein Leben als das, was er war: als Chronisten.
Ihn umgaben Schriften, Tintenfässchen, Federn, auf dem Boden verstreute Schnitze von Federkielen. In seinem grauen Talar war Harum wehrlos wie ein neugeborenes Kind.
Lautes Krachen schreckte ihn auf. Obwohl es aus der Tiefe des Bauwerks nur über die Treppe herauf drang, klang es, als bräche gleich hier vor ihm schweres Holz entzwei. Darauf folgten Rufe, weiteres Krachen, Scheppern und Schreie. Bald schon verstummten diese Geräusche. Für eine Weile wurde es still. Dann hoben draußen erneut Rufe an.
Im inneren Hof sammelten sich Kämpfer. Einer von ihnen schwenkte eine Lanze, auf der ein Kopf aufgespießt war. Es war unverkennbar der Kopf des Satrapen, den die Eroberer zum Torhaus trugen und oben auf dem Wehrgang darüber aufpflanzten, damit die Stadt vom Tod ihres Regenten erfuhr. Sie machten daraus nicht mehr als ein kurzes Schauspiel, Bewohner Eshemers, die vor dem Tor Zeuge wurden, bekamen nur ein paar laut gesprochene Worte des Anführers zu hören, die Harum trotz ihrer Bestimmtheit nicht verstehen konnte. Danach zogen sich die Kämpfer bis auf zwei Wächter am Tor ins Gebäude zurück. Damit war es getan. Die alte Blutlinie war ausgelöscht und die Herrschaft Ashuls und Kebes diesseits des Zinnen-Gebirges womöglich für immer beendet.
Harum schwankte, hielt sich am Gemäuer aufrecht. Noch einmal schweifte sein Blick über die im Skriptorium ausgebreiteten Schriften. Auch sein Dienst für den Satrapen und das Reich war nun zu Ende. Unerwartet flatterte Furcht in ihm auf wie ein verängstigter Vogel, den er kaum zu beruhigen vermochte. Andererseits, dachte Harum, war es vielleicht auch die Erwartung selbst, die in ihm dem Ereignis entgegen strebte.
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Die vielen Bände der Chronik standen entlang der Mauer aufgereiht, lediglich ihr jüngster Zuwachs in Gestalt noch ungebundener Blätter zur Farbe geschäumter Butter aufbereiteten Pergaments lag auf dem Schreibpult bereit, sich von ihm in Träger eines Generationen überdauernden Gedächtnisses verwandeln zu lassen, in sorgfältiger Arbeit seiner Hände und seiner nach den rechten Worten greifenden Gedanken. Geist und Hände – sie waren es, die er und andere seiner Art gebrauchten, nicht Stein und Eisen, um den ungeordneten Lauf der Geschichte in Form zu bringen, und das Ergebnis dieser Bemühung war so viel beständiger als jene, die von Witterung und Rost und Verwesung der sie zu Bauwerken schichtenden und in Schlachten tragenden Körper zerfressen wurden, noch lange bevor auch nur ein geschriebenes Wort in den Läuften der Zeit ganz verblassen würde. Dies galt zumindest solange, bis die Kunst selbst in Vergessenheit geriet.
Nicht zum ersten Mal presste Harum die Kiefer fest zusammen im Gedanken daran, dass zwar Herrscher und Heilige es waren, die Reiche erschufen, doch solch unscheinbare Leute wie er sie zusammenhielten und dafür sorgten, dass sie selbst über ihr Ende hinaus in Erinnerung blieben.
In Eshemer hatte Harum dafür nie einen Dank erhalten. Tatsächlich hatte man ihn kaum je beachtet, geschweige denn dafür geachtet oder gar gefürchtet, wie viel Macht er in Händen hielt. Dachte er an die Jahrzehnte seines Diensts für den Satrapen zurück, so bestanden sie aus schier unzähligen Stunden im Skriptorium verbrachter Einsamkeit und nur seltenen Augenblicken, in denen sich die Aufmerksamkeit der Oberen auf ihn gerichtet hatte. Nur zu zeremoniellen Anlässen ließ man ihn vor den Satrapen und das Volk treten, damit er ausgewählte Stellen aus der Chronik vortrug. Mit brechender Stimme zumeist, sprach Harum Worte, die vergangenen Dingen zum Wohl der Gegenwart Leben einhauchten. Vergangenen Dingen, ja, aber allzu oft solchen, die in Wahrheit nie geschehen oder nicht so geschehen waren, wie die Chronik sie darstellte. Hatte der Satrap in jungen Jahren etwa wahrhaftig einen großen Sieg gegen die Brandschatzer aus den Langsümpfen errungen? Oder war sein Versuch, mit einer Schar in die Sümpfe vorzudringen, nicht viel mehr schon beim ersten Zusammenstoß mit deren Bewohnern kläglich gescheitert, die zwar arme Teufel waren – und nicht die furchteinflößenden Feinde, als die man sie im Gedächtnis behalten sollte –, doch den Vorteil der Ortskenntnis zu nutzen wussten, um die Reiter in Hinterhalte zu locken, in denen die Pferde bis zu den Bäuchen in Schlamm versanken. Allein dass man ein paar der Sumpfleute hatte gefangen nehmen und sie stellvertretend für alle anderen hatte auf dem Platz vor der Zitadelle hinrichten können, machte aus einer Peinlichkeit keinen Triumph, wohl aber die Worte der Chronik aus Harums feder und aus seinem Mund, Jahre nachdem selbst denen, die damals gelebt hatten, die wahren Ereignisse aus dem Gedächtnis entschwunden waren. Dafür hatte die stete Wiederholung der Legende gesorgt.
Wenn schon Harums eigene Leistung am Geschehenen so nachhaltig bedeutsam und erhaben machte, was eigentlich belanglos und wenig lobsam gewesen war, dachte er, wie wenig mochten dann nach Zeit und Ort fernere Dinge wie etwa die Errichtung der alten Reiche Ashul und Kebe selbst und die Legenden ihrer Kaiser und der großen Heiligen der Wahrheit entsprechen? Nun lag es an ihm, dem Gelehrten, aus dem Ende des Satrapen und Eshemers Fall … nun entweder eine tragische Legende zu machen, oder anstatt dessen den Eroberern zu Glanz und Ruhm zu verhelfen. Harum befand sich auf der Schwelle und ein Nicken in Richtung des einen oder des andern würde Tatsachen schaffen und den Lauf dieses Teils seiner Welt für immer verändern.
Der Satrap und Fürst dieses Landes war tot. Seine Linie mit ihm ausgelöscht. Eshemer würde neue Herren haben und früher oder später – dessen war Harum sich gewiss – würde auch über ihn ein Urteil hereinbrechen. Er sah diesen Augenblick nahen, doch ließ sich dessen Gestalt noch nicht fassen. Sie war so nebelhaft wie ein Schemen im Morgengrauen. Furcht und Erwartung. Es war letztlich beides, was Harum zittern ließ, sowohl aus Vorfreude wie unter der Last eines nicht abzuwendenden Schicksals, das er selbst nicht in der Hand hielt.
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Am frühen Morgen trieb Hunger ihn erneut die Stufen hinab. Nach einer unruhigen Nacht – Harum hatte sich auf der Bettstatt gewälzt und kaum wirklich geschlafen – fühlte er sich wie in einem Traum von Mattigkeit gefangen und war zu keinem klaren Gedanken fähig. Zudem nagte die Leere in seinem Bauch und wirkte die nächtliche Hitze in ihm nach, sodass die Treppe ihn kopfüber hinabzuziehen drohte und er mit beiden Händen sich an der Mauer entlangzutasten gezwungen war. Wie erhofft, fand er erneut einen Korb mit Essen und Wasser auf dem Absatz. Gierig schlang er beides noch Ort und Stelle herunter, und als sich der Schwindel in seinem Kopf endlich beruhigte und Kraft in die Glieder zurückkehrte, lauschte Harum in Stille hinein. Wäre dies ein gewöhnlicher Tag gewesen, so hätten Bedienstete zu dieser Stunde längst ihre Arbeit begonnen, doch die Zitadelle wirkte wie ausgestorben, als seien all ihre lebenswichtigen Geschäfte ausgesetzt oder auf ein Nötigstes beschränkt, dass sich unter einem Mantel der Lautlosigkeit bewerkstelligen ließ. Und doch hatte die treue Magd an ihn gedacht. Harum war ihr dankbar, und erleichtert darüber, dass sie die Gewalt des vergangenen Tages offenbar überstanden hatte.
Die Sonne stand noch hinter den Bergen. Ob der frühen Stunde und der Stille, und auch, weil er sich von der Speise gestärkt fühlte, kam Harum der Gedanke, er könnte nun die Gelegenheit dazu nutzen, sich umzusehen.
Der Fuß der Treppe mündete in die Vorhalle, die linker Hand zum inneren Hof offenstand. Dort erspähte Harum, hinter einer Säule halb verborgen, einen im Halblicht wie eingefrorenen Wächter. Desgleichen vor dem Thronsaal, beide Krieger hatten die Köpfe geneigt und mochten, solange Harum kein Geräusch verursachte, in ihrer Haltung verharren. Nach rechts konnte Harum in die Tiefen der Zitadelle vordringen, zu den Unterkünften der Diener, der Palastküche, den Vorratskellern und Lagerräumen und in den hinteren Hof, zu den Ställen. Er wagte sich jedoch lediglich bis an das Ende der Halle und überzeugte sich davon, dass sie von ihm selbst abgesehen leer war. Aus einem Durchgang ins Freie betrachtete er den Sonnenaufgang über dem Gebirge, die orange-gelben Sonnenstrahlen wie zustechende und sich vortastende Fingerspitzen auf dem Pflaster. Als sie ihn erreichten, weckten sie Harum aus seiner Versenkung und er hörte Schritte im Saal hinter sich. An die Mauer gepresst und in der Hoffnung, sein graues Talar werde ihn, solange er sich nur nicht bewegte, vor Blicken verbergen, hielt er den Atem an. Die Schritte gingen in einigem Abstand am Durchgang vorbei. Harum lugte um den Winkel des Mauerwerks und sah seinen Weg zurück zur Treppe frei. Er eilte, darauf achtend, dass seine eigenen Schritte nicht zu hören waren.
Im Skriptorium angekommen erstarrte er, sobald er die über sein Schreibpult gebeugte Frau erblickte. Sie trug den Kriegsrock der Eroberer.
Langes dunkles Haar fiel über ihre Schultern herab und verdeckte das Gesicht. Starke Arme stützten einen Hühnenleib. Von Schriftrollen umgeben sah sie aus, als sei sie der Chronik selbst entsprungen. Ein Raubtier im Garten der Gelehrsamkeit.
Die Frau hob den Kopf und sah Harum an. Harum wagte kaum zu atmen, doch als sie sich wieder der Chronik widmete, wurde ihm klar, dass es kein Entkommen in die Unsichtbarkeit für ihn gab.
Als die Frau erneut den Blick auf ihn richtete, machte sie einen belustigten Eindruck. Sie war jung, gewiss nicht viel älter als fünfundzwanzig. „Deine Worte“, sagte sie, „hast du sie alle niedergeschrieben? Sind zum Sprechen keine mehr übrig?“
„Herrin“, beeilte Harum sich zur Antwort, „vergebt mir. Ich wollte Euch nicht unterbrechen.“
Die Frau grinste. „Jedenfalls hast du dir die Zunge nicht abgebissen.“
Nicht wissend, was von ihm erwartet wurde, blieb Harum stehen und beobachtete sie. Etwas verblüfft erkannte er sie wieder. Aus der Höhe betrachtet, hatte er sie für einen Mann gehalten, doch sie war die Anführerin der Eroberer.
Harum spürte, dass seine Knie nachgeben wollten. Er fühlte sich ertappt und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Auf diesen Augenblick hatte er gewartet, ohne wirklich an ihn zu glauben, und jetzt, wo es so weit war, kam alles anders, als er es erwartet hatte.
Nicht ein Mal in all seiner Zeit am Hof des Satrapen hatte irgendwer anders als Harum selbst aus der Chronik gelesen. Die wenigsten in Eshemer konnten überhaupt lesen oder gar schreiben, und die es konnten, nutzten ihre Fähigkeit lediglich für Depeschen und Erlasse oder zur Lagerhaltung und Führung von Konten. Harum ganz allein schrieb und las in der Chronik, er allein las laut aus ihr vor – und dort stand die Fremde, die nun seine Herrin war, an das Pult gelehnt und deckte Harums Geheimnisse auf. Er glaubte es an ihrem Gesicht ablesen zu können. Häme und Erheiterung zeichneten sich darauf gleichermaßen ab. Vor mittlerweile vielen Jahren, Jahrzehnten sogar, hatte Harum die Grenze überschritten, jenseits derer die Fremde ihn nun so beiläufig stellte.
„Deine Chronik ist voller Lügen“, stellte die Kriegerin fest, „und voller Wahrheiten.“
Harum setzte zu einer Antwort an, besann sich und hütete seine Zunge. Mehr als gelinde Überraschung war ihrem Tonfall nicht anzumerken, und doch fürchtete Harum, nur ein Wort aus seinem eigenen Mund könnte die Magie des Augenblicks in einem Ausbruch von Gewalt enden lassen.
Er sah sich an den Anfang seiner Zeit als Chronist zurückversetzt, als ihm bewusst geworden war, sich nicht in sicherer Freiheit sondern in der Sicherheit eines Kerkers zu befinden. Sein Meister, Murah, hatte ihn vieles gelehrt und ihm zu lesen gegeben, worin Harum sich nun getäuscht sah. Denn Murahs Schriften hatten ihn glauben lassen, er würde sich in die Freiheit des Denkens begeben. Anstatt dessen oblag es ihm als Chronisten, die Wahrheit in Fesseln zu legen, sie mit Lügen zu ersetzen und somit sich selbst zum Gefangenen und einer Lüge seiner selbst zu machen.
Doch nach Jahren in diesem Kerker war ihm aufgegangen, wie groß sein Gefängnis war – groß genug, um sich selbst darin zu verbergen – und, dass es Risse besaß, durch die er die Luft der Freiheit atmen, und mehr noch, durch die hindurch er Botschaften aussenden konnte.
Die Kupferplatte an der Wand fing seinen Blick ein und Harum erlebte einen Augenblick der Verwirrung, denn für die Dauer eines Zwinkerns glaubte er von dort seinen Meister, Murah, zu sehen. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie ähnlich er dem Alten mit den Jahren geworden war.
Der schüttere Kranz grauen Haars auf dem knochigen Schädel, das längliche Gesicht mit kantigen Wangenknochen, die schmale Nase, die spitz auslaufenden grauen Brauen auf dunkler Haut und der verschmitzte Ausdruck, hinter dem aus eingesunkenen schwarzen Augen Klugheit hervorlugte – hinter ihrem eigenen derben Aussehen, der Kraft und ihrer Weiblichkeit blieb ihre Geistesschärfe den meisten Menschen, vor allem Männern, ebenso verborgen wie dieser Alte sein inneres Wesen vor anderen geheim halten mochte, doch Salann nahm sich vor, den Mann nicht zu unterschätzen. Zwar schien er nicht von der Art zu sein, die ihr mit einem Messer unter der Hand an die Kehle gehen würde, doch etwas gefiel Salann an ihm nicht.
„Wenige Bücher hast du hier. Wo sind die übrigen?“, fragte sie ihn.
„Herrin?“
„Die Schriften, für die Eshemers Zitadelle berühmt ist. Wo sind sie?“
Nun sah der Chronist wahrhaftig ratlos aus. „Berühmt, Herrin? Das, was Ihr hier seht ist eigentlich schon alles … Ein paar Bücher stehen noch neben meiner Bettstatt, aber zur Berühmtheit gereichen sie allesamt nicht.“
„Nein? Dabei heißt es, Nahesars Turm beherberge weithin den größten Schatz an Weisheit?“
Unwillkürlich sah Harum sich nach den Seiten um, wie um sich zu vergewissern, dass er nicht irgendwo ein Buch übersehen hatte. Aber nein, natürlich kannte er sie alle, und wusste genau, wo jedes einzelne sich befand. „Herrin … es mag sein, dass dieser Ort dafür gilt und tatsächlich schon die Bände der Chronik hier einen größeren Schatz darstellen, als ihr ihn sonst wo diesseits der Zinnenberge finden werdet.“
Auch Salann schaute sich um, zählte still die aufgereihten Bände – es waren sieben – und den Stapel Papiere auf dem Pult dazu. Unter der Schreibplatte befanden sich weitere Bücher, vielleicht drei Dutzend, also insgesamt keine fünfzig und dazu, was bei dem Alten an der Bettstatt liegen mochte. Alles in allem hielt sie das für ein enttäuschendes Ergebnis. Es hätten wenigstens eintausend sein sollen.
Harum indes verspürte ein Echo in seinen Gedanken. Ihre Worte hallten in ihnen nach und pochten gegen eine Pforte, von deren Existenz er schon lange wusste. Nur war er bisher nie durch sie hindurch gegangen. Er wusste von ihr aus seinen Träumen von einem alten Bauwerk, in dem er selbst wie ein verlorener Geist umging, sich der Lage der Kammern und Hallen nur vage bewusst, sodass er sie lediglich zufällig auf seinen Wanderungen durch lange Korridore und verwinkelte Höfe und über Wehrgänge entdeckte. Immer war das Gemäuer von tiefen Schatten verdunkelt, die sich scharf gegen einen weißen Himmel abgrenzten, dessen Licht den wandernden Geist niemals berührte. Die Pforte ließ sich nur unverhofft finden, und nie ganz erreichen. Immer wand sich der Weg, den der Geist ging, auf den letzten Schritten zur Pforte in eine unvorhergesehene Richtung und immer war der Geist froh darüber. So sehr ihn seine Schritte auch zu ihr drängten, fürchtete er sie doch. Nun schien das Echo von ihr auszugehen und ihn zu ihr zu rufen. Harum wusste nicht einmal, ob er je im Wachsein an sie gedacht hatte, doch in diesem Augenblick, da er sich erinnerte, stand sie unvermittelt und klar vor ihm. Er brauchte nur die Hand nach ihr auszustrecken und sie würde sich für ihn öffnen.
Salann beobachtete den verschlagenen Kerl und fragte sich, was sie überhaupt an diesen Ort geführt hatte. Nicht nach Eshemer, das wusste sie, sondern in Nahesars Turm. Noch ehe sie den Entschluss zur Erstürmung der Stadt gefasst hatte, war ihr die Vorstellung des Turms und des darin sich befindenden Skriptoriums so lebhaft vor Augen getreten, als hätte sie diesen Ort schon einmal gesehen und nicht nur von ihm gehört. Wieso war das so? Und woher hatte sie so genau gewusst, auf wen sie hier treffen würde? Es fühlte sich an wie Bestimmung, Vorsehung oder noch mehr wie ein wahrhaftiger Blick in das Künftige, die lediglich von einem zarten Schleier verhüllte Zukunft.
Noch wenige Wochen zuvor war dies alles nicht wirklich gewesen. Dann hatte Salann geträumt. In diesem Traum hatte sie die Treppe eines alten Turms betreten, war hinaufgestiegen und in eine Kammer voller Bücher getreten, und dort …
Im Laufe des Tages würden sich die Einwohner Eshemers am Tor versammeln, Männer mit Einfluss in der Stadt würden ihre Furcht überwinden und vor das Tor selbst treten und um ein Wort mit dem Anführer der Fremden bitten. Für sie war es ebenso Schicksal, dass Eshemer nun neue Herren besaß, und darein würden sie sich fügen, wenn nur offenbart würde, wie es nun weiterging. Ein Fürst ersetzte den anderen. So war es schon immer gewesen, und im Wesentlichen war solch ein Wechsel nichts Schlimmes, wenn nur die Geschäfte weiter geführt werden konnten und das Tagwerk nicht liegen blieb. Salann würde also vor sie treten und ihnen die Lage erklären. Sie beanspruchte die Herrschaft über diesen kleinen Teil der Welt für sich selbst. Das und nicht weniger war es, was hier vorging. Aber auch nicht mehr. Für die Einwohner der Stadt und deren Umland zumindest war das schon die ganze Wahrheit.
Aber von jenem Augenblick an als sie vor Wochen aus einem wirren Traum erwacht war, zog es Salann unwiderstehlich nicht allein nach Eshemer und zur Zitadelle, sondern zu dieser Kammer in Nahesahrs Turm. Die Ereignisse, die zur Eroberung der Stadt geführt hatte, wirkten ihr nun selbst wie Ansichten eines Traums. Ihre Schar im Sold eines Kriegsherrn im Westen auf einem Streifzug durch die weite Ödnis, Gerüchte vom Niedergang der alten Reiche des Ostens, Ihr Vorstoß zu den Zinnen, das Geschenk des Schicksals in Gestalt des Erben des Fürsten von Eshemer, der ihnen wie aus dem Himmel in die Hände fiel und nun tot in den Bergen lag. Auf einmal war ihr die lange verborgene Tür zur Erfüllung ihrer Bestimmung offenbart.
…und dort stand ein alter Mann an einem Pult. Die Kammer war voller Bücher, wenigstens eintausend davon. Der Alte schrieb mit einem Gänsekiel kratzend auf Pergament, erhob den Blick und traf den ihren. Sie erkannte Verschlagenheit in seinen Augen und wusste, dass sie ihm auf eine Weise, die sie nicht verstand, ausgeliefert war.
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In diesem Traum stand die Frau an seiner Stelle, dem Pult, gleich neben der Tür. Ihr Blick war auf ihn gerichtet und Harum war sehr erstaunt, denn in vergangenen Versionen dieses Augenblicks, glaubte er, war es ein Mann gewesen, der dort stand. Aber so war die Kunst eben beschaffen. Man streckte die Hand in den Nebel aus, doch was man zu greifen bekam, war selten genau das, was man erwartete. Als Harum nach einigen Jahren im Dienst des Satrapen erkannt hatte, welche Freiheit ihm offenstand, war es ihm zunächst noch eiskalt über den Rücken gegangen, dieses Gefühl der Macht im Verborgenen, die doch so zerbrechlich war. Es genügte ein einziger Blick eines anderen in die Chronik, um aufzudecken, was er getan hatte. Nur eine einzige Abweichung von der Regel, die sich über all die Zeit in seinen Gedanken geformt hatte.
Die Chronik war uralt. Ihre ältesten Bände waren so alt, dass ihr Pergament brüchig wurde, und die Schrift sich kaum noch von der nachgedunkelten Tierhaut abhob. Was Harum davon überhaupt erkennen konnte, ließ sich zudem nicht entschlüsseln, denn die Schrift war ihm unbekannt. Mit einiger Sicherheit war selbst die Sprache, die sie darstellte, längst aus dem Gedächtnis der Menschen geschwunden, waren ihre Laute und mit ihnen die Bedeutung der Worte unwiederbringlich verhallt. Allein in jüngeren Bänden ließen sich Zeichenfolgen erkennen, denen Harum einen Sinn zu entlocken wusste. Dies mussten nun ältere Formen derselben Schrift und Sprache sein, die sich in den alten Reichen seit Jahrhunderten zu ihrem gegenwärtigen Gebrauch entwickelt hatten. Diese Veränderung, ein Abbild des Laufs der Zeit, konnte man über die drei mittleren Bände der Chronik verfolgen. Mehr und mehr von ihrem Inhalt ließ sich deuten, bis dann, in den zwei Bänden, die Murah verfasst hatte, die Schrift als Ganzes zu lesen war. Harums erster eigener Band schließlich führte die Chronik zunächst fort, wie seine Vorgänger es getan hatten. Siege und Lügen füllten die Seiten zu Ehren Ashuls und Kebes und zu Ehren der Blutlinie des Satrapen. Kein schlechtes Licht, nicht einmal eine Andeutung von Kritik fiel auf diese oder die Götter der Reiche, Tolstok, den Totengott und Dasta, die Göttin der Wiedergeburt, die zwei Reiche, wie die Kammern eines Herzens oder die Hälften eines Gehirns vereint in ihrem sonderbaren Wechsel von Nacht und Tag und aller davon abgeleiteter Ordnung, dem Wechsel auch der Regentschaft mal des einen, dann des anderen Reiches über die gemeinsamen Lande und ihre Bewohner. Doch in der Mitte dieses siebten Bands erfolgte der Bruch. Auf Absätze der Ehrung folgten nun solche der Wahrheit. Harum hatte allen Mut aufgebracht, damals, um diese Wendung zu vollziehen. Da sie unentdeckt blieb, wurde es leichter, ging ihm die Wahrheit der Geschichte immer leichter von der Hand. Alle Schlechtigkeit und Verworfenheit des Satrapen, seiner Familie, der Kaufleute Eschemers und der Herren Ashuls und Kebes – jede Tat war getreu den Ereignissen zu Pergament gebracht und darauf wie in Stein gefasst. Eshemer war ein Ort der Unterdrückung, der Lügen, der Missgunst. Harum hatte sie und ihre Bewohner in ihrer satten Geschichtsvergessenheit, allen voran den Satrapen selbst, aus tiefstem Herzen zu hassen gelernt, nicht zuletzt, weil er als Chronist in der Zitadelle nicht mehr als ein Gefangener war.
Hier im Grenzland fallender Reiche war doch er selbst der einzige noch wahrhaft denkende Mensch, der einzige mit einer Vorstellung von Geschichte, mit Erinnerung, die über die paar armseligen Jahre des Körpers hinausreichte. Nicht ein einziges Mal war dies am Hof des Satrapen gewürdigt worden. Mit der Wahrheit über sie alle rächte sich Harum auf die einzige ihm mögliche Weise. Und hätte ihn jemand danach gefragt, so würde er gesagt haben, dass dies auch die wirksamste Weise sei, denn so werde die Zeit sich immer an die Schlechtigkeit Eshemers erinnern.
Nun war dieser Sieg im Geheimen Harum noch nicht genug gewesen, und war es denn überhaupt wirklich ein Sieg, wenn er klammheimlich die Wahrheit notierte? Gewiss, solange Harum im Feuer gerechter Empörung schrieb, fühlte es sich danach an, doch dieses Gefühl konnte allzu schnell in Verzagtheit umschlagen, aus der heraus ihm das, was er tat, eher lachhaft zu sein schien. An die Kraft der Wahrheit zu glauben, fiel nicht leicht, nein. Nicht, wenn womöglich niemand sie je lesen würde. Und aus der schieren Verzweiflung solcher Stunden der Ungewissheit heraus meldete sich in seinen Gedanken eine andere Stimme zu Wort. Sie flüsterte und kam Harum deshalb nur langsam zu Bewusstsein, doch was sie zu sagen hatte …
Die Vorstellung des Alten als einer Art Hexenmeister war lachhaft, auch wenn die Version aus dem Traum ihr durchaus als ein solcher erschienen war – dessen Federkiel als ein Zauberstab, der Pult ein magischer Zirkel, das Schwarz der Tinte auf dem Pergament die Beschwörung eines höheren oder tieferen Wesens; warum nicht Tolstoks, des Totengotts selbst? Ferne und Nähe fielen in Salanns Traum zusammen wie lange Vergangenes mit der Zukunft in einem allumfassenden Augenblick. In diesem befand sie sich auch jetzt, obwohl die Dinge sich etwas anders darstellten. Sie selbst stand an dem Pult, der Alte davor, ohne Federkiel. Der Augenblick schien wie eingefroren. Der Alte regte sich nicht. Sie regte sich nicht.
Harum streckte die Hand aus, stieß die Tür auf und die Stimme in seinem Kopf wurde lauter.
… was die Stimme zu sagen hatte, bewegte ihn zu einem ersten zaghaften Versuch. Er schrieb in die Chronik. Schrieb etwas, das noch nicht geschehen war. Und ließ das Ergebnis offen. Es war eine Frage der Hoffnung. Eine Frage des Kalküls. Sollte dieses kleine Detail sich bewahrheiten, würde davon eine Folge von Ereignissen ausgehen, die die Zukunft veränderte. Und so war es geschehen. Harum wagte noch mehr. Der Ritt des Fürstensohns aus der Stadt hinaus. Das Aufeinandertreffen mit der Schar Fremder Söldner. Danach noch zu verzeichnen, dass der Sohn bei dieser Begegnung gestorben war, war ein Akt der Genugtuung gewesen, denn dass es so geschehen war, lag allein an ihm. Das ging über die Kraft der Wahrheit weit hinaus. Das war Zauberei. Deren Kunst bestand darin, eine Reihe von Ereignissen bloß in Gang zu setzen, nicht ihren Ausgang vorweg zu nehmen. Nur so wurde aus dem einfachen Vorgang des Schreibens ein die Wirklichkeit gestaltender Fingerzeig. Der Schlag, der den Satrapen niedergestreckt hatte, die Eroberung und schließlich die Enthauptung des Fürsten, das alles ging aus jenem Aufbruch seines Sohns hervor, und auch diese Begegnung in Nahesars Turm, zwischen Ihm, Harum, und der Frau, die seinen Willen, seine Hoffnung vollstreckt hatte.
Wer glaubte denn schon an Träume? Träume waren nicht wirklich. Wirklich war indes, was man für einen bloßen Traum halten mochte! Als Harum die Tür durchschritt, legte sich eine Hand auf seine Schulter und stieß ihn voran. Er taumelte in die Kammer jenseits der Schwelle. Es war dunkel dort, doch durch die Tür fiel gerade ausreichend Licht, dass er sehen konnte. Eine Gestalt an einem Schreibpult zeichnete sich in der Schwärze ab. Das Kratzen eines Federkiels auf Pergament war zu hören. Dort stand Harum selbst. Nein, nicht Harum. Murah stand dort und schrieb in der Chronik. Vor dem Pult stand die Frau, die Kriegerin. Sie sah aus, als sei sie dem Meister ausgeliefert, wie gebannt, von dem, was er tat, von den Worten, die er schrieb. Harum wusste aus Erinnerung, dass die Kammer von Büchern und Schriftrollen angefüllt war. Er selbst kannte jedes einzelne Wort auf jeder einzelnen Seite jedes Buchs, das hier zu finden war, und er brauchte wieder nur die Hand ins Dunkel auszustrecken. Blind ertastete er eine Schriftrolle, von der er unfehlbar gewusst hatte, dass sie dort liegen musste. Als er sie an sich nahm, kam ihm ihr Name zu Bewusstsein: die Mysterien Alabans. Rot gewachstes Papyrus, mit schwarz lackierten Holzkappen und einer schwarzen Seidenschnur verschlossen. Das Jahrtausendwerk eines Meisters aus Talkas.
Wie ungeheuer wichtig doch war, was in diesem Augenblick geschah, dem Drehpunkt des Schicksals, an dem sich Ende und Anfang offenbarten.
In Tolstoks Namen war dieses Werk verfasst worden. Doch was darin stand, war eine Perversion der Lehren von Dasta. Aus Tod werde Leben. Aus Leben Tod. Nur, dass Leben den Tod überdauern sollte und das sehr wohl auch konnte, wenn nur die richtigen Schlüsse aus dem Offensichtlichen gezogen wurden. Und das wiederum war nicht so sehr kompliziert, es war nur so unwahrscheinlich, dass es leicht übersehen werden konnte.
Über das Pult hinweg lächelte Murah seinem Schüler zu. Harum verstand die Aufforderung und ging auf die Frau zu, die nicht auf ihn achtgab, sondern noch immer von den eleganten Schwüngen des Kiels auf dem Pergament wie in Fesseln gehalten wurde.
Ich bin es, der schreibt, dachte Harum, ich kann es tun. Ja, die Wahrheit besaß eine unerbittliche Kraft, doch die Wahrheit, hatte Murah ihn gelehrt, oblag der Feder, und der Hand, die sie führte, und dem in die Zukunft ausgreifenden Geist, der die Hand lenkte. So stand es in Alabans Mysterien. Aufgrund dieser einfachen, doch alles ins Wanken bringenden Erkenntnis waren Alaban hingerichtet, seine Schüler verfolgt und seine Schriften vernichtet worden. Der Mann war verbrannt, die Schriften waren verbrannt, bis auf eine einzige Kopie, die in Murahs Besitz aus dem fernen Kebe bis jenseits der Zinnen gelangte. Dort, in Eshemer, war Alabans letzter Schüler im Dienst eines einfachen Satrapen unerkannt geblieben, hatte sein Wissen gemehrt, es an seinen eigenen Schüler, Harum, weitergegeben und zuletzt die einzige noch existierende Abschrift der Mysterien verbrannt, nachdem er noch das letzte Wort davon in sein Gedächtnis eingeschrieben hatte – und nicht nur das. Murah war als alter Mann gestorben, aber nicht, ohne zuvor einen Teil seines Wesens kraft der Feder – tatsächlich mit nur wenigen aber äußerst machtvollen Strichen – auf seinen Schüler zu übertragen. Dieser Teil, der mehr war, als bloße Erinnerung, lebte nun in ihm fort.
Nun waren die alten Reiche im Fall begriffen, ihre Macht reichte nicht länger bis hierher. Damit war es an der Zeit, das Exil aufzugeben, die selbstgewählte Gefangenschaft zu beenden und darin bestand auch der Plan. Harum selbst war alt und würde schließlich sterben, aber nicht bevor die Fortdauer seiner geistigen Linie gesichert war. Im Körper dieser Frau würde der Geist endlich triumphieren. Wahrhaft große Dinge, die Schemen weltumspannender Ereignisse zeichneten sich voraus im Nebel der Zeiten ab. Alabans Vermächtnis, Murahs Vermächtnis, Harums Vermächtnis, Salanns Schicksal und darüber hinaus …
Wie der Alte es schaffte, aus der Reglosigkeit so schnell vorzuspringen, dass er bereits bei ihr stand, begriff Salann nicht, doch sie sah seine Augen und wich ohne nachzudenken vor ihm zurück. Auf sie hatte er es zwar wohl nicht abgesehen, sondern griff lediglich nach dem Federkiel auf dem Pult und begann wie im Fieber auf dem Pergament zu kratzen. Doch das diabolische Glitzern seiner Augen … Salann handelte aus dem Bauch heraus. Sie fasste den Hinterkopf des Chronisten und stieß ihn mit dem Gesicht voran auf das Pult. Die Nase brach und Blut spritzte über das Pergament und das Pult. Dann sackte der Körper schlaff zu Boden. Als sie sich über ihn beugte, ihn auf die Seite rollte, erkannte sie, dass sie aus Abscheu zu viel Kraft aufgewendet hatte. Der Alte war tot. Angewidert ließ sie ihn liegen und verließ das Skriptorium. Sie hatte an diesem Tag … was genau?, überlegte Salann – nun, jedenfalls noch sehr viel zu tun.
(c) Tobias Reckermann, 2023